Pflichtethik

 

Rettungsdienst

Sie sind Notarzt und treffen als Erster bei einem Verkehrsunfall auf einer Bundesstrasse ein (gehen Sie bitte für das Folgende davon aus, dass so schnell keine weitere Unterstützung eintreffen wird). Sie verschaffen sich rasch einen Überblick über die Lage und kommen zu der Erkenntnis, dass die Fahrerin eines PKW´s in womöglich selbstmörderischer Absicht, jedenfalls scheinbar grundlos, die Spur gewechselt hat und frontal in ein entgegenkommendes Auto gerast ist. Es gibt zwei Schwerverletzte, die Frau und den Fahrer des anderen Autos. In Bruchteilen von Sekunden erkennen Sie, dass beide Ihnen bekannt sind:
Der Fahrer des einen Autos ist ein 47 jähriger Unternehmer, ein wichtiger Arbeitgeber in der Region und Vater von drei schulpflichtigen Kindern.
Mit der Frau hatten Sie vor etwa einem Jahr eine Affäre – für Sie selbst war die Beziehung “nichts ernstes”. Sie wissen aber, dass die Frau sehr verletzt war, sich von Ihnen ausgenutzt fühlte und in ihrer Verzweiflung auch schon Selbstmordabsichten äußerte.

Die beiden Unfallopfer haben lebensgefährliche Verletzungen und liegen im Sterben. Sie können aller Wahrscheinlichkeit nach nur einen der beiden Patienten retten. Wie entscheiden Sie sich?

Kant

Immanuel Kant (1724-1804)

Folgt man an dieser Stelle der Pflichtethik, wie sie etwa von Immanuel Kant vertreten wurde, so wäre es falsch,
– aufgrund von Gefühlen (z.B. einem schlechten Gewissen) zu entscheiden;
– aufgrund von Konventionen oder Traditionen zu handeln (z.B. Frauen und Kinder zuerst…)
– aufgrund von Spekulationen oder Phantasien zu entscheiden (z.B. die Frau wollte Selbstmord begehen – dies ist eine Theorie des
Arztes, die nicht bewiesen ist).

Doch selbst wenn man sicher wüsste, dass die Frau die Absicht hatte, Selbstmord zu begehen, wäre dies kein Grund, sie jetzt sterben zu lassen, denn jeder Mensch hat einen Zweck an sich (modern: jedes menschliche Leben hat einen Sinn und Wert).  Die Frau sieht diesen nur im Moment nicht oder weiß ihn nicht zu schätzen, aber er ist gegeben.

Gefordert wäre stattdessen eine vernünftige Begründung des eigenen Tuns (Kant fordert dies grundsätzlich und in jeder Situation, selbst in kritischen Situationen wie der hier vorgegebenen), also ein Handeln nach Regeln, die dem kategorischen Imperativ folgen. Die Frage lautet somit: Was wäre in diesem Fall für alle gut bzw. vernünftig?
Auch hier zuerst einige Handlungsmuster  bzw. -begründungen, die diese Regel nicht erfüllen:
– Der Arzt handelt gar nicht – wir können aber nicht wollen, dass ein Arzt in einer Dillemmasituation gar nicht helfend aktiv wird.
– Der Arzt rechnet nach halbutilitaristischem Muster, also alleinstehende Frau gegen Vater von drei Kindern; aber nochmals: Jedes Leben
hat seinen Zweck an sich und darf nicht gegen ein anderes Leben aufgerechnet werden (wir wollen auch als Personen wahrgenommen
werden und nicht als “Humankapital” etc…).
– Der Arzt rettet den Mann aufgrund seiner gesellschaftlichen Bedeutung als Arbeitgeber… Sein Maßstab wäre also der Nutzen der
jeweiligen Person. Nur, würden wir wollen, dass immer zuerst die gerettet werden, die in der Gesellschaft einen höheren Status haben?
Wollen wir auf unseren Nutzen für die Gesellschaft reduziert werden?

Bis zu diesem Punkt wurden ausschließlich Negationen formuliert, übliche und klassische Begründungen für Entscheidungen als nicht der Pflichtethik und damit dem kategorischen Imperativ und den Forderungen der Vernunft entsprechend deklariert. Um es noch radikaler zu formulieren: Wer nach einem der oben genannten Kriterien entscheidet, handelt nach Kant nicht frei. Das mag bei dem hier zugrundegelegten Beispiel nicht schlimm sein, denn immerhin kommt man auf diese Art und Weise in kürzester Zeit zu einer Entscheidung, die auch von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen von der Gesellschaft akzeptiert werden kann. Grundsätzlich aber gilt, dass eine so begründete Handlung ethisch nicht rein ist, denn sie erfüllt ein Kriterium nicht, dass wir alle für gut befinden und von dem wir erwarten, dass es gerade auch ein Arzt erfüllt. Dieses Kriterium, das auch die Forderung des kategorischen Imperativs erfüllen würde, wäre:

Der Arzt entscheidet rein nach medizinischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten, ohne Ansehen der zu behandelnden Person.

Hippokratischer Eid

(der hippokratische Eid in griechischer Fassung)
(Quelle: www.aerzteblatt.de)

Leave a comment