Ethik des Islams

Der Glaube an Gott ist die Basis jeder Religion, doch erst wenn der Glaube an Gott lebensbestimmende Praxis wird, ist der Glaube echt. Dies gilt für Muslime und Christen gleichermaßen. Gleichwohl tritt an dieser Stelle, an der von der Beziehung des Menschen zu Gott die Rede ist, auch schon ein entscheidender Unterschied zutage: Während Christen, dem Apostel Paulus folgend, ethisch handeln, weil sie die befreiende Nähe Gottes erfahren haben und diese dankbar weitergeben wollen, handeln Muslime aus Gehorsam gegenüber Gott, der dem Menschen bestimmt hat, wer er ist, was seine Pflichten sind…

images

Eng verwandt sind Islam und Christentum in der ethischen Praxis. Um dies zu erkennen, ist es allerdings nötig, einige wenige Spitzen zu ignorieren, die die Wahrnehmung des Islams bei vielen westlich geprägten Menschen bestimmen: die Rolle der Frau, das Gebot, Dieben die Hand abzuhacken und Ehebrecher zu steinigen. Auf diese Aspekte wird im Folgenden nicht mehr eingegangen, stattdessen seien alle modernen aufgeklärten Christen an die Geschichte des Christentums erinnert…

Tatsächlich – und das steht natürlich teilweise deutlich im Gegensatz zum jeweiligen Erscheinungsbild –  sind Islam und Christentum zwei Religionen, in deren Zentrum – auch aufgrund einer gemeinsamen Tradition und gemeinsamer heiliger Schriften – die Idee von der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes steht, die zugleich ein Auftrag an die Menschen ist:

Ein Alter, der ebenso reich wie geizig war, hatte einen kranken Sohn. Als sich der Zustand des Jünglings nicht bessern wollte, rieten wohlmeinende Freunde dem Vater: “Es muss etwas geschehen! Vielleicht hilft es, wenn Du um seinetwillen den ganzen Koran einmal durchliest, oder aber, wenn Du ein Opfertier schlachtest und das Fleisch unter die Armen verteilst… Wer weiß, ob Allah dann ein Einsehen hat und Deinem Jungen Gesundheit schenkt?”
Der Geizhals dachte über diesen Vorschlag nach und erwiderte schließlich: “Dann ist es wohl besser, wir lesen den Koran, denn der liegt im Haus, meine Herde ist gerade viel zu weit weg… und das Nahe ist dem Fernen doch vorzuziehen!” “Nun ja”, sprach da ein beherzter Mann, “es war zu erwarten, dass er so wählt, denn der Koran sitzt ihm auf der Zunge, das Geld inmitten der Seele”.

Diese Geschichte aus dem Werk eines persischen Dichters hat ihre deutlichen Entsprechungen in der Bibel und beschreibt eine Gewissheit beider Religionen: Gott will keine Menschen, die heilige Schriften auswendig können, er will, dass Armen geholfen wird, dass Traurige getröstet werden… Gott will eine Welt, in der sozialer Friede herrscht, eine Welt, in der alle gleich behandelt werden und gleich sind. Diese Gedanken finden im Islam unter anderem ihren typischen Ausdruck in Zakat, einer der fünf Säulen des Islams, der Pflicht, Almosen zu geben und in der alle sozialen Unterschiede nivellierenden Kleidung der Pilger bei der Hadsch. Es ist ein Dorn im Fleisch des Christentums, dass die soziale Grundausrichtung im Islam zur Zeit offenkundig stärker und überzeugender zutage tritt, weshalb der Islam gerade in den armen Gegenden dieser Welt auf dem Vormarsch ist.

Ein weiterer Grund für die zunehmende Attraktivität des Islams liegt in der unterschiedlichen Stellung des Menschen in Islam und Christentum: Während nach christlicher Überzeugung der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, ist er im Islam nur Geschöpf Gottes. Dieser theologische und anthropologische Unterschied ist in der ethischen Praxis, etwa in der Bewertung der Abtreibung oder im Umgang mit Behinderten… bedeutungslos auch hier sind sich beide Religionen einig. Erst, wenn man nach dem aus diesen unterschiedlichen Ansätzen heraus entstehenden Selbstbewusstsein fragt, wird der Unterschied deutlich: Aus der Botschaft, dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes sei, entstand im Christentum auch dank entsprechender philosophischer Einflüsse, die Überzeugung, dass jeder einzelne Mensch etwas ganz Besonderes sei – sprich es kam zu einer starken Fokussierung auf den Einzelnen, seine Rechte und seine Entfaltungsmöglichkeiten. Dem stellt der Islam eine, in unserer Zeit der Einzelkämpfer und Egoisten, attraktive Idee entgegen: Wir (Muslime) sind alle Teil einer großen Gemeinschaft – umma – und bevor ich dafür sorge, dass es mir gut geht, achte ich darauf, dass es der Gemeinschaft gut geht.

isl24

Leave a comment