Augustin “De civitate Dei”

Was sind überhaupt Reiche, wenn die Gerechtigkeit fehlt, anderes als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche. Sie sind eine Schar von Menschen, werden geleitet durch das Regiment eines Anführers, zusammengehalten durch Gesellschaftsvertrag und teilen ihre Beute nach Maßgabe ihrer Übereinkunft. Wenn eine solche schlimme Gesellschaft durch den Beitritt verworfener Menschen so ins große wächst, daß sie Gebiete besetzt, Niederlassungen gründet, Staaten erobert und Völker unterwirft, so kann sie mit Fug und Recht den Namen „Reich“ annehmen, den ihr nunmehr die Öffentlichkeit beilegt, nicht als wäre die Habgier erloschen, sondern weil Straflosigkeit dafür eingetreten ist. Hübsch und wahr ist der Ausspruch den ein ertappter Seeräuber Alexander dem Großen gegenüber getan hat. Auf die Frage des Königs, was ihm denn einfalle, daß er das Meer unsicher mache, erwiderte er mit freimütigem Trotz: „Und was fällt dir ein, daß du den Erdkreis unsicher machst? aber freilich, weil ich es mit einem armseligen Fahrzeug tue, nennt man mich einen Räuber, und dich nennt man Gebieter, weil du es mit einer großen Flotte tust.“ (Aurelius Augustin, De Civitate Dei IV. Buch)

Dieser Gedankengang ist letztlich der Ausgangspunkt der Rede von Papst Benedikt vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011. Der Papst erinnert in diesem Zusammenhang, wie nicht anders zu erwarten, an das Dritte Reich, das sicherlich ein gutes Beispiel für einen Staat ist, dem jedes Bewusstsein von Recht und Gerechtigkeit abhanden gekommen ist. Aber es ist nicht die Absicht des Papstes, in der Vergangenheit zu verharren. Im Gegenteil, er nutzt das Beispiel von Augustin und die Erinnerung an die deutsche Geschichte, um den Parlamentariern deutlich zu machen, dass sie selbst auch in der Gefahr stehen, den Bezug zu Recht und Gerechtigkeit zu verlieren:

Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganzes ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verwiesen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden. Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, daß wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.
(zitiert nach dem entsprechenden Protokoll des deutschen Bundestages – zur Quelle)

 In schöne Worte verpackt findet sich hier jener Gedankengang wieder, den die katholische Kirche schon seit Augustin unablässig wiederholt und durchzusetzen sucht: Ein Staat, der sich nicht von der katholischen Kirche führen lässt, ist eine Räuberbande. Dabei ist es dann letztlich fast schon egal, ob dieser Staat in seiner Ausrichtung nationalsozialistisch ist oder ob er sich der Demokratie oder den Grundsätzen der Vernunft und positiv – d.h. empirisch – nachgewiesenen Grundsätzen verpflichtet fühlt. Entscheidend ist die Stellung des Staates zum göttlichen Wort, das durch die Kirche verkündigt wird. Und hier sieht der Papst eindeutige Defizite auch in der gegenwärtigen deutschen parlamentarischen Demokratie, denn in dieser ist die Kirche nur eine “Subkultur” oder eine Interessensvertretung unter vielen, obwohl sie allein es ist, die dem Staat den Weg zu gerechtem Handeln zeigen kann.

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Heinrich IV beim Gang nach Canossa – oben im Fenster Papst Gregor

An dieser Stelle könnte man nun freilich einwenden, dass die Kirche selbst in der Vergangenheit oft als moralische Instanz versagt habe. Man denke hier nur an die sehr weltlich orientierten Borgia-Päpste oder Papst Pius XI bzw. Papst Pius XII und ihr Verhalten zu den Verbrechen des Dritten Reiches. Doch wer daraus schließt, dass die Kirche deshalb nicht geeignet sei, dem Staat den rechten Weg zu zeigen, der irrt, denn schon Augustin wusste mit diesem Einwand umzugehen. Sehr fein unterscheidet Augustin zur Entgegnung dieses Einwurfs zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche. Während erstere aus echten Christen und Scheinchristen besteht und jene Kirche ist, die uns im Alltag begegnet, so ist letztere die wahre Kirche und besteht aus den lebenden und verstorbenen Heiligen. Beide Kirchen sind aus der Sicht Augustins in vielen Fällen deckungsgleich, doch da es immer wieder Momente gibt, in denen die Scheinchristen das Ruder an sich reißen, kann es passieren, dass sich die Kirche auch einmal falsch verhält. Aber, so Augustin, der Staat hat trotzdem keine Wahl, will er dem Dasein als Räuberbande entkommen. Er muss sich unter die Herrschaft der Kirche stellen.

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(Papst Pius XI mit Triara – der dreifachen Krone)

 

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