Alltagsethik und ihre Grenzen

Alltagsethik beruht auf Gewohnheit und Traditionen, sei es persönlichen oder kulturellen. Sie ist die Form der Ethik, mit der wir die normalen Herausforderungen des Tages meistern. Sie lässt uns handeln, ohne groß nachzudenken und oft genug sind bestimmte ethische Entscheidungen für uns so selbstverständlich, dass uns gar nicht mehr bewusst ist, dass wir überhaupt eine ethische Entscheidungen treffen, etwa dann, wenn wir Fleisch essen oder mit dem Auto irgendwo hinfahren… Damit entlastet uns die Alltagsethik von der Notwendigkeit, uns selbst große Gedanken zu machen (schön wäre es allerdings, wir hätten sie uns einmal gemacht) und das ist gut so, denn tatsächlich wäre es ja auch sehr lähmend, würden wie vor jeder kleinen alltäglichen ethischen Situation eine ausführliche ethische Diskussion führen…

Teil unserer Alltagsethik sind auch einzelne Argumente und kleinere Argumentationsmuster, die wir gerne nutzen, um ethische Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, im “Vorübergehen” zu lösen. Besonders beliebt ist hier zum einen eine oft deutlich reduzierte Pflichtethik in Aussagen wie: “Es ist die Pflicht der Behörden…” und ein ebensooft ebenso reduzierten Utilitarismus andererseits in Aussagen wie: “Wenn durch den Bau einer neuen Startbahn bei einem Flughafen so viele Arbeitsplätze entstehen und mehr Menschen besser in den Urlaub kommen, dann müssen das auch die akzeptieren, die in der Einflugschneiße leben und die sich über den Lärm beschweren…”

 

View of the Oktoberfest in Munich at night.

View of the Oktoberfest in Munich at night.

Beide Formen, Pflichtethik oder besser der Verweis auf Pflichten und Utilitarismus oder besser der Gedanke, dass die Mehrheit entscheidet, verwenden wir gerne wechselweise und gerne auch in Kombination. Ein schönes Beispiel hierfür ist die “Diskussion” um die Sicherheit bei öffentlichen Veranstaltungen, wie z.B. dem gerade zu Ende gegangenen Oktoberfest… Für die meisten steht es dann außer Frage, dass die Behörden alles Erdenkliche tun sollten, um Anschläge zu verhindern. Das sei schließlich die Pflicht der Behörden. In diesem Zusammenhang hätte eine Mehrheit der Bevölkerung offenkundig auch kein Problem damit, wenn die Behörden zur Erfüllung dieser Aufgabe den Internetverkehr überwachen und Handys abhören. Das Glück einer (scheinbar) sicheren Wiesn wiegt hier eindeutig höher als der Schutz der Privatsphäre, der glaubt man zumindest den Umfragen nur einer Minderheit wichtig ist…

berwachung im Alltag

An dieser Stelle könnte man mehrere Diskussionen beginnen, etwa darüber, ob hier die Pflichtethik richtig angewandt wird oder über Sinn und Nutzen einer Handy- und Internetüberwachung. Viel interessanter ist an dieser Stelle aber der psychologische Aspekt an dem hier beschriebenen Argumentationsmuster: Könnte es nicht sein, dass wir in unserer Alltagsethik bestimmte Aspekte der Pflichtethik deshalb so gerne nutzen, weil sich sich gut eignen, um andere in die Pflicht zu nehmen? Könnte es nicht sein, dass wir Elemente des Utilitarismus deshalb so gerne aufgreifen, weil wir uns damit gut in der Masse verstecken können – ganz getreu dem Motto: Wenn so viel dafür sind, kann es nicht falsch sein? Könnte es also sein, dass es eigentlich um Verdrängung geht, dass wir uns selbst auf diese Weise unserer Verantwortung zu entledigen suchen, die wir als mündige Bürger doch eigentlich tragen? In der Ethik und in der Rechtswissenschaft gibt es einen eigenen Fachbegriff, für unsere Verantwortung in diesem Zusammenhang: Das allgemeine Lebensrisiko. Sprich: Wir sollten uns eigentlich bewusst sein, dass das Risiko eines Unfalls, Opfer eines Verbrechens zu werden… in unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedlich hoch ist. So kann eine Schülerin davon ausgehen, dass sie in einer Schule besonders gut geschützt ist, sie sollte aber auch wissen, dass die Zahl der Vergewaltigungen in München im Zusammenhang mit dem Oktoberfest deutlich steigt, dass sie also, wenn sie auf die Wiesn geht ein höheres Lebensrisiko eingeht. Oder: Ihr sollte eigentlich bewusst sein, dass sie mehr Verantwortung für sich selbst trägt…

Spätestens an dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, dass die Alltagsethik ihre Grenzen hat und ihre eigenen Gefahren mit sich bringt. Wir kreieren auf diese Weise Illusionen – die Behörden sorgen für Sicherheit – und wir entmündigen uns selbst…

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