Tugendethik oder Es geht nicht zuerst um Dein Glück!

Was wünschen wir uns mehr, als dass ein Arzt, der uns behandelt, das Gute als Ziel hat, sprich unsere Heilung? Was wünschen wir uns mehr, als dass unser Nachbar, der uns bei einem Problem hilft, das Gute als Ziel hat, sprich uns zu helfen?

Wir wissen allerdings auch, dass das in den allermeisten Fällen so nicht stimmt: Der Arzt denkt nicht nur an unsere Heilung, sondern auch an sein Geschäft und gegebenenfalls, wenn wir eine besondere Krankheit haben sollten, gar an seinen Ruhm. Und der Nachbar? Er hilft wiederum oft nur solange, wie es Spaß macht, bzw. um gut dazustehen… Wir erleben im Laufe unseres Lebens, alltäglich viele Enttäuschungen dieser Art. Die, von denen wir uns erhoffen, dass sie das Gute zum Ziel haben, verfolgen auch andere Ziele und oft sind es solche, die uns nicht nützen und manchmal sogar schaden. Wer hier etwas pessimistisch oder sollen wir sagen realistisch gestimmt ist, der kann gar zum Schluss kommen, dass es ein Fehler sei, zu erwarten, dass der andere einem Gutes wolle. Im Gegenteil, es sei typisch für unsere Mitmenschen, unsere Gesellschaft und uns selbst, dass es eigentlich nur noch um Eines geht: Den eigenen Spass, den eigenen Vorteil oder kurz: Das eigene Glück für das dann der Andere Mittel zum Zweck ist.

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Sind uns in diesem Sinne die Tugenden abhanden gekommen, die man ja, je nach Theorie auch als Charaktereigenschaften bezeichnen kann und deren Ziel es ist, das Gute für den Anderen zu wollen? Man könnte dies annehmen und denke hier z.B. an die gute alte deutsche Tugend der Pünktlichkeit. Wir kennen sie und wir bemühen sie auch gerne, etwa dann, wenn wir vorhatten mit der Bahn von A nach B zu kommen und die Bahn wieder einmal unpünktlich ist. Dann erheben wir gerne den Zeigefinger und klagen die Einhaltung der Tugend der Pünktlichkeit ein. Doch wehe, wenn uns einer diese Tugend anklagend vor Augen hält, etwa weil wir zu einem Termin zu spät kommen. Dann ist das Urteil “Mein Gott, typisch deutsch, wie spießig” schnell bei der Hand. Diese letztere Reaktion ist wohl ein Reflex der Ideologie der 68ger, die wenn dann Spontaneität zur Tugend erhebt und mit festen, althergebrachten Werten – wie eben den Tugenden – und mit Verbindlichkeiten wenig bis nichts anfangen konnte, ja sie als reaktionär verdammte.

Aber, brauchen wir Tugenden in unserer hochzivilisierten und aufgeklärten Welt überhaupt noch? Diese Frage wird interessanterweise in der Gegenwart immer wieder bejaht, meist mit dem Verweis auf jene raffgierigen Banker, die die Welt in eine inzwischen langandauernde Krise stürzten. Aber, seien wir ehrlich: Jene, die in diesem Zusammenhang fordern, die Banker auf einen Tugend- und Wertekatalog zu verpflichten, wollen eine Rückkehr zur Tugendethik nicht wirklich. Sie nutzen den Verweis auf die Tugenden genauso, wie jene, die von der Deutschen Bahn immer wieder die Tugend der Pünktlichkeit einfordern: Als Mittel, von anderen einzuklagen, was dem eigenen Glück dient. Nur, wer eine Tugendethik will, der weiß auch, dass bestimmte Grundtugenden, wie etwa Ehrlichkeit, von jedem eingefordert werden können und müssen. Sprich: Wer fordert, dass Banker ehrlich gegenüber ihren Kunden sein sollen, wenn sie ihnen Wertpapiere verkaufen, der sollte selbst, im Kleinen, etwa bei seiner Steuer, auch absolut ehrlich sein.

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(Bruegel, Die sieben Tugenden)

Gehen wir einen Schritt weiter: Worum geht es hier eigentlich? Um unser Glück, um nicht mehr und nicht weniger. Wir haben es uns inzwischen angewöhnt, es je für uns selbst zu suchen. Mit der Folge, dass jeder dem Glück nachjagt, wobei gefühlt aber nur die wenigsten glücklich werden. Das hat verschiedene Gründe, nur einer sei hier genannt: In einer Welt, in der Spontaneität oder Flexibilität ein Ideal ist, ist es schon aus logischen Gründen nicht möglich durch die Festlegung auf eine Rolle (z.B. die der Mutter) oder einen Job dauerhaft glücklich zu sein. Den Gegenpol dazu bildet die Tugendethik. Sie steht für Verbindlichkeit und Stabilität. Sie geht davon aus, dass das Glück möglich ist, wenn ich das Gute tue, um des Wohls des Anderen willen.
Siehe auch http://www.julian.nida-ruemelin.de/deutsche-handwerkszeitung-vom-14-3-2014/

 

 

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