Klassische Theorien angewandt I

Eine fiktive Situation:

Ein Boot voller Flüchtlinge aus einem Bürgerkriegsgebiet in Afrika wird vor der Küste Siziliens von der italienischen Marine aufgebracht. Die Italiener drängen auf Weisung ihrer Regierung das Boot ab und sorgen dafür, dass es zurück, Richtung Afrika fährt (Dort kommt das Boot allerdings nie an). In einer Pressemitteilung zu diesem Vorfall heißt es: Angesichts überfüllter Flüchtlingslager auf italienischem Boden und angesichts der Weigerung der restlichen europäischen Staaten, insbesondere der reichen Nationen, wie Deutschland, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, sieht sich Italien dazu gezwungen, die Grenzen zu schließen. Flüchtlinge, die versuchen über den Seeweg nach Italien zu kommen, werden wieder zurückgeschickt. Die Verantwortung für das Schicksal der Flüchtlinge, für die Vielzahl derer, die auf offener See ertrinken, liegt bei ganz Europa und nicht allein bei Italien. Insofern ist die Weigerung Deutschlands und anderer europäischer Staaten, unter Verweis auf die sog. Drittstaatenregelung, Flüchtlingen aufzunehmen, auch die Entscheidung, sie auf dem Meer sterben zu lassen.

Abandoned belongings and life jackets on the shore

Abandoned belongings and life jackets on the shore

 

Eine erste Antwort:

Am einfachsten scheint die Bewertung dieser Situation aus der Sicht des Utilitarismus zu sein: Das Glück vieler Millionen Europäer steht dem Glück der wenigen Bootsflüchtlinge entgegen und damit ist nach der greatest happiness Faustformel klar: Die Flüchtlinge haben Pech gehabt, es ist legitim, sie zurückzuschicken, sie müssen auf ihren Traum, Anteil am Wohlstand Europas zu haben, verzichten, weil durch ihre Anwesenheit das Glück Europas, der hart erarbeitete Wohlstand, in Gefahr ist.

Diese Art der Argumentation, die sich immer wieder und nicht selten findet, ist allerdings einerseits überhaupt nicht im Sinne des Utilitarismus und andererseits rassistisch. Schon letzteres aber ist mit dem Utilitarismus nicht vereinbar, der immer das Wohl aller Beteiligten im Blick hat. Und überhaupt: Worin besteht denn hier das Glück? Um wieviel wird denn das Glück von uns Europäern tatsächlich geringer, dadurch dass wir Flüchtlinge aufnehmen? Der Unterschied, er mag von Person zu Person und Situation zu Sitiuation differieren, wird in der Summe äußerst gering, bzw. kaum spürbar sein. Dagegen aber steht auf der Seite der Flüchtlinge kaum messbares, aber unendliches Leid – der qualvolle Tod durch Ertrinken, die Trauer der Angehörigen und – selbst wenn sie überleben, der Hunger, die Kriege, die sie erwarten und aus denen sie kommen. Damit ist es nach dem Nutzen- und dem hedonistischen Prinzip aus der Sicht des Utilitarismus eigentlich unmöglich, die Flüchtlingen zurückzuschicken, sie dem sicheren Tod oder dem Leid in Afrika zu überlassen. Zumal auch zwei weitere Prinzipien des Utilitarismus verletzt sind: Diese Handlung ist a) nicht rein, im Sinne von: wir könnten den Angehörigen der Flüchtlinge mit Sicherheit nicht mit gutem Gewissen in die Augen schauen und sie ist b) auch nicht sicher, denn das beabsichtigte Ziel, durch derartige Maßnahmen abzuschrecken und zu verhindern, dass weitere Flüchtlinge sich auf den Weg nach Europa machen, wird m. E. ebenfalls nicht erreicht.

Damit ist eines klar: Die Flüchtlinge sollten aus der Sicht einer utilitaristischen Argumentation natürlich aufgenommen werden und wenn hier jemand im Sinne der greates happiness Formel Nachteile in Kauf nehmen muss, dann sind das jene, die sich durch ein Flüchtlingswohnheim in der Nachbarschaft gestört fühlen…

Flüchtlinge

Die zweite Anwort:

Versetzt man sich in die Situation der Flüchtlinge, die hilflos auf dem Meer treiben, die aus einer Heimat kommen, in der es nachweislich (empirisch überprüfbar) zahllose lebensbedrohliche Gefahren gibt (Hunger, Bürgerkriege…), so ist klar: Keiner von uns würde es in solch einer Situation wollen, so zu behandelt werden, wie es die italienische Marine mit den Flüchtlingen tat. Der Vorfall wäre aus der Perspektive einer rationalistischen Ethik unter Verweis auf den kategorischen Imperativ somit scharf zu verurteilen.

Dies gilt umso mehr, als die Motive der handelnden Personen unlauter sind, denn erstens hat nach den Grundsätzen der Pflichtethik jeder Mensch einen Zweck an sich, darf also nicht zum Mittel zum Zweck werden, wie das hier geschieht, wenn die italienischen Institutionen die Situation nutzen, um Politik zu machen. Darüberhinaus dürfen zweitens auch Gefühle und Ängste in unserer Argumentation und bei unserer Entscheidung keine Rolle spielen. Und so gilt: Solange es keinen vernünftigen Grund gibt zu behaupten, die Flüchtlinge würden unser Glück gefährden, solange es vor allem keinen vernünftigen Grund gibt zu sagen, dass der Verlust an Glück bei uns so groß ist, dass es vernünftig ist, friedfertige, schutzbedürftige und vernünftige Menschen in eine Heimat zu schicken, in der es nachweislich Krieg, Hunger… gibt, solange ist es ein Gebot der Pflicht für uns Flüchtlinge aufzunehmen.

 

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