Martin Luther – die zwei Reiche Lehre II

Aus der Sicht der katholischen Kirche gab es in der Geschichte eine Reihe von Irrtümern, die sich so in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben, dass es kaum mehr möglich ist, sie zu tilgen. Zwei dieser Irrtümer sind die Reformation und die Aufklärung. Beide beruhen aus der Sicht der katholischen Kirche auf falschen Annahmen und falschen Schlüssen. Als evangelischer Theologe muss ich dazu sagen: Die katholische Kirche hat recht! Gut, sie hat nicht absolut recht, aber doch ein großes Stück weit, denn beide, die Reformation und die Aufklärung machen einen großen Fehler: Sie glauben an den Menschen, an den einfachen Menschen, seine Fähigkeiten und seinen Willen und, sie überfordern ihn damit heillos.

Seien wir doch mal ehrlich, wir die Aufgeklärten, wir die Evangelischen: Wer von uns bildet sich denn seine eigene Meinung, etwa zu den mit Gentechnik verbundenen ethischen Problemen, sei es nach den Maßstäben Luthers (unter Einbezug des eigenen Gewissens, des eigenen Verstandes und nach Studium der heiligen Schrift) oder nach den Maßstäben der Aufklärung (unter Einsatz der reinen Vernunft, unter Ausschaltung von Emotionen…)? Vorsicht, vor einem zu schnellen “Ich, mach das!” Gefordert ist bei beiden eine intensive, umfassende Prüfung, die zudem aufruft zur Diskussion mit anderen, um die eigene Meinung kritisch zu überprüfen. Wer macht das wirklich? Vor allem, wenn es doch auch einfacher geht und man derart komplexe Sachverhalte getrost den seriösen Experten von der Kirche und der Wissenschaft überlassen kann?

Es geht freilich noch weiter, denn sich eine Meinung zu bilden, ist ja das eine, sie zu vertreten das andere. Luther etwa vor dem berühmten Reichstag zu Worms, stand zu seiner Meinung auch wenn ihn das in Lebensgefahr brachte und auch die Aufklärer standen sehr wohl öffentlich zu ihren Erkenntnissen. Wie aber steht es da mit uns, den Aufgeklärten, den Evangelischen? Allzuoft kann man auch hier eines beobachten, statt selbst aufzustehen, zu unserer Meinung zu stehen, statt sich selbst etwa gegen Ausländerfeinde zu stellen, oder gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel zu protestieren rufen wir um Hilfe: Der Staat soll eingreifen. Der Staat soll Gesetze erlassen uns und unsere Rechte, die Menschenrechte… verteidigen! Dass wir so um Hilfe rufen, auf die Obrigkeit setzen, ist kein Wunder, wie sollten wir denn auch eine Meinung vertreten, wenn wir keine echte eigene haben! Keine, die schon, so wie es sich Luther mit seinem Priestertum aller Gläubigen wünscht oder wie es die Aufklärer in ihren Diskussionszirkel tatsächlich umgesetzt haben, in einer öffentlichen kritischen Diskussion (unter Freunden) erprobt ist.

Ja, jene katholischen Stimmen, die die Aufklärung und die Reformation einen Irrtum nennen, haben recht. Wir wollen uns zu oft keine eigene Meinung bilden, wir wollen diese Meinung nicht mit anderen diskutieren – zumindest nicht unter der Maßgabe, dass aufgrund dieser Meinungsäußerungen und Diskussionen Entscheidungen getroffen werden. Das hat nur manchmal ewas mit Bequemlichkeit zu tun. In vielen Fällen haben wir dafür unsere legitimen Gründe. Tatsächlich sind ja, anders als noch zu Zeiten Luthers oder der Aufklärung, die meisten ethischen Themen in unserer Zeit hochkomplex. Man braucht heute mehr denn je, wissenschaftliche Kenntnisse und ein Bewusstsein über globale Zusammenhänge… Insofern ist die eingangs formulierte Kritik durchaus berechtigt, der Ansatz Luthers und der Aufklärung überfordert heute mehr denn je die Menschen.

Dies anzuerkennen bedeutet allerdings auch, zuzugeben, dass Luther und die Aufklärung falsch lagen, als sie das gesellschaftliche System von Grund auf änderten:  Die Menschen können und wollen weder die Kirche noch der Staat sein. Sie wollen beide als Gegenüber, als Autorität, die ihnen sagt, was sie tun, was sie glauben sollen. Sie wollen die Verantwortung nicht tragen, die Reformation und die Aufklärung ihnen aufbürden: Entscheidungen zu treffen, Haltungen zu formulieren und nach außen zu vertreten. Sie sind froh, wenn das jemand für sie tut, lassen sich gerne überzeugen und führen.

Hat also die katholische Kirche tatsächlich recht? So wie es hier dargestellt wurde, ja. Allerdings ist die Idee Luthers und der Aufklärung, den einzelnen Menschen die Verantwortung für sein Denken und Handeln zu geben, nicht deshalb falsch, weil sie kaum jemand umsetzt. Sie kann, sie muss uns ein Ideal bleiben, dass es weiterhin anzustreben gilt, so schwer das ist, denn eines sollte man auch nicht vergessen: Die Alternative wäre sich vom Staat und der Kirche führen zu lassen. Doch wer wäre das tatsächlich? Einzelne Menschen waren und sind oft genug der Staat und die Kirche und einzelnen Menschen und ihren Meinungen zu folgen, führte – siehe nicht nur das Dritte Reich – in so manche Katastrophe…

Wittenberg, Nationalsynode

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