Politische Theologie

Stell Dir vor, Du wärst aufgrund irgendwelcher Zufälle im großen kosmischen Roulette, in der rumänischen Provinz auf die Welt gekommen. Ein Haus, mehr eine Baracke, die Straße vor dem Haus im Sommer staubig, im Regen schlammig. Dein Vater hat keine Arbeit, er wird in seinem Ort auch keine finden, überhaupt: Von Anfang an begleitet Dich ein Gefühl, nein, es ist kein Gefühl, es ist eine Gewissheit: Die Menschen mögen Dich und Deine Familie nicht. Sie meiden euch, sie benachteiligen euch, sie zeigen euch, dass ihr unerwünscht seid. Du hungerst oft, Du frierst im Winter. Ein Lehrer hat Dir einmal gesagt, dass er glaubt, Du seist hochbegabt, so schnell, wie Du den zu erlernenden Stoff erfasst, aber im selben Satz sagt er Dir auch, dass das egal sei, denn schon jetzt sei auch klar, dass aus Dir nicht mehr würde als aus Deinem Vater, ein Nichtsnutz. So lebt ihr, so vegetiert ihr dahin, bis eines Tages Deine Familie beschließt: Wir verlassen die Heimat, wir versuchen nach Deutschland zu kommen.

 

Du hörst Deinen Eltern zu, wie sie von Deutschland sprechen – es muss eine Art Paradies sein. Selbst für einfachste Tätigkeiten gibt es Löhne, von denen man hier, in der Heimat, tagelang leben könnte. Die Menschen dort haben alles in Hülle und Fülle, all die Kleider, Handys… die Du nur vom Fernsehen kennst und, sie haben so viel, so erzählen es zumindest die Erwachsenen, dass sie viele Dinge, die noch gut sind, einfach wegschmeißen…

Romakind

Voller Erwartungen machst Du Dich eines Tages dann tatsächlich auf den Weg ins Paradies, nach Deutschland. Du hast fast nichts dabei, Du hast auch nichts zurückgelassen, denn Du hast nie wirklich etwas besessen. Die Reise ist anstrengender als Du Dir das vorgestellt hast. Vieles, an dieser Reise verstehst Du nicht – etwa warum ihr nicht einfach mit dem Zug direkt dorthin fahrt oder warum ihr teilweise nur nachts reist… Aber dann ist es soweit: Ihr kommt in Deutschland an und Du stehst in einer ganz anderen Welt.

Die Straßen sind zwar nicht aus Marmor oder Gold, aber sie sind sauber,  geteert. Du siehst Menschen, die ganz selbstverständlich Kleidungsstücke, Handys, Schuhe, Handtaschen… tragen, die sich in deiner Heimat niemand leisten kann. Du weißt, wieviel diese Dinge wert sind, Du weißt, dass man vom Gegenwert der Turnschuhe deines Gegenübers in deiner Heimat lange wie ein König essen könnte. Du siehst die Läden, voll mit Waren. Es ist das Paradies, es muss das Paradies sein, wären da nicht die seltsamen Reaktionen der Menschen um Dich herum.

Du spürst schnell, dass ihr auffallt – man sieht dir, man sieht euch die Herkunft an, das wird dir schnell bewusst. Deine Haut ist dunkel, deine Haare, deine Kleider, deine Schuhe, sie verraten deine Herkunft, deinen sozialen Status sofort. Die Blicke, die dich treffen, sind vom ersten Augenblick an voller Misstrauen, voller Abscheu. Die Menschen machen manchmal deutlich sichtbar, manchmal unauffälliger einen Bogen um euch herum. Mehrfach hörst Du Worte wie “Zigeuner”, “Gesindel”, “Schmarotzer”. Du verstehst den Sinn dieser Worte nicht, aber, dir ist sofort klar, sie sind abwertend gemeint, voller Verachtung.

Nur zweimal habt ihr Kontakt mit den Menschen hier. Die ersten, die mit euch reden, lernt ihr aufgrund eurer Neugier kennen. Es ist eine Gruppe junger Menschen, die in der Fußgängerzone Lieder singt. Dein Vater nähert sich ihnen, denn er hat gehört, dass man in Deutschland Geld verdienen kann, wenn man in der Stadt auf der Straße Musik macht. Tatsächlich zeigt sich aber schnell, dass diese Jugendlichen nicht darauf aus sind, mit ihrer Musik Geld zu verdienen. Sie beginnen ein Gespräch mit Euch, das zu nichts führt – sie sprechen Deine Sprache nicht – aber am Ende bleibt doch eines hängen, ein Gedanke, der den Jugendlichen sehr wichtig ist und den zu vermitteln, sie sich redlich mühen: Jesus liebt dich! Du weißt natürlich, wer Jesus ist. Schließlich seid ihr ja auch Christen. Du kennst ihn, aus den Kirchen Deiner Heimat. Er ist der Sohn Gottes, er hängt in den Kirchen, vergoldet, man betet ihn an…

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Die zweite Gruppe von Menschen, die euch begegnet, beendigt zugleich euren Ausflug ins Paradies. Es ist die Polizei, die euch mitnimmt, die euch erkennungsdienstlich behandelt, so als hättet ihr gestohlen, gemordet oder geraubt und die euch einsperrt, um euch dann nach einiger Zeit in eure Heimat abzuschieben…

Was ist politische Theologie?

Jesus hat Menschen von ihrer Not befreit, sehr konkret, er hat Kranke geheilt und Ausgegrenzten eine Rückkehr in die Gemeinschaft ermöglicht. Er hätte wahrgenommen, dass für den fiktiven aber doch realen Sinti-Jungen aus der obigen Geschichte, Gedanken wie “Gott liebt dich” völlig leer, bedeutungslos sind, weil der Junge konkret leidet. Jesus hätte gewusst, dass es schlichtweg ignorant und unmenschlich ist,  nichts gegen die Not des Jungen zu unternehmen. Jesus hätte gewusst, dass die Worte: “Jesus liebt dich” aus dem Mund eines gut situierten Jugendlichen in den Ohren des Sinti-Jungen anders klingen: Jesus liebt mich (den gut situierten Jugendlichen) und nicht dich (den Sinti-Jungen). Jesus hätte gewusst, dass der Mensch davon lebt, dass er anerkannt wird, dass er Wertschätzung erfährt, dass er sich angenommen fühlt, dass er das braucht, und dass er nur, wenn er das erlebt, auch verstehen kann, was es bedeutet zu hören “Gott liebt dich”.

Politische Theologie hat es sich zum Ziel gesetzt, die Gesellschaft so zu verändern, dass sie gerecht wird, dass jeder verstehen kann, was es bedeutet, geliebt zu werden, akzeptiert zu werden, gleich behandelt zu werden… weil nur für den, der das erlebt und erfahren hat, glaubhaft und spürbar ist, was es bedeutet zu hören: Gott liebt dich, Gott nimmt dich an, so wie du bist. Glaube und Religion sind somit keine Privatsache, sind nicht beschränkt auf den Bereich des Privaten. Sie haben im Gegenteil eine öffentliche Dimension, denn Jesus rief nicht dazu auf, einigen auserwählten Einzelnen zu helfen, sondern das Reich Gottes auf Erden zu bauen und d.h. die Welt insgesamt und grundsätzlich zu verändern…

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