Gerechtigkeit – ein Leitbegriff biblischer Ethik II

Besonders wichtig ist Gott, im Hinblick auf die Gerechtigkeit der soziale Bereich. Dies wird nicht nur deutlich, wenn man die biblischen Propheten liest, auch die 10 Gebote haben diese Ausrichtung. Sie sind, dies zeigt schon die Einleitung zu den 10 Geboten, dazu gedacht, Verhältnisse zu verhindern, wie sie das Volk Israel in Ägypten erlebte. Sie sollen die Ausbeutung Schwacher, die Vernachlässigung Benachteiligter verhindern und beschneiden deshalb ganz gezielt das Recht des Stärkeren. Deshalb wird in den 10 Geboten gefordert, dass alte Menschen (Vater und Mutter) geehrt und nicht vernachlässigt werden sollen. „Du sollst nicht begehren“ zielt auf den Schutz des Existenzminimums und soll verhindern, dass Reiche, Mächtige sich den Besitz und das Leben der einfachen Menschen aneignen.

Gott der Gerechte, ist, dies darf man auch nicht vergessen, nicht passiv. Er segnet Menschen, die gerecht sind, also nach seinen Leitlinien leben, wie etwa Abraham oder Hiob mit einem langen Leben und er bestraft die, die sich nicht daran halten. Gerade das Volk Israel bekommt dies im Alten Testament mehrfach zu spüren. Gott, der Richter, straft sein Volk, wenn es Arme ausbeutet und die Witwen und Waisen hungern lässt. Er schickt Naturkatastrophen oder gar fremde Armeen, die Israel zerstören und das Volk Gottes bestrafen.

Jesus wiederum, lebt den Menschen vor, was Gott unter Gerechtigkeit versteht. Und spätestens hier wird deutlich, dass es nicht darum geht, Gerechtigkeit herzustellen, in dem Sinne, dass ich zu meinem Recht komme, sondern, dass wir, wie Jesus, versuchen sollten, gegen das Unrecht und das Leid zu kämpfen, das andere ertragen müssen. Kämpfen, dieses Wort ist an dieser Stelle bewusst gewählt, denn Gerechtigkeit bedeutet Leidenschaft, vollen emotionalen Einsatz. So ist das bei Gott im Alten Testament, der leidenschaftlich wird, wenn wir, seine Ebenbilder, nicht so handeln, wie dies ein gutes Ebenbild tun sollte und so ist dies bei Jesus. Er setzt sich intensiv, aufopferungsvoll für die Benachteiligten, die Schwachen, die Kranken und die Ausgegrenzten ein. Dafür opfert er sein Leben! Und das sollte Christen ein Vorbild sein!

In diesem Zusammenhang sehr spannend ist das Gespräch, das Jesus mit dem reichen Jüngling führt (Mt 19, 16ff), dem er sagt: „Geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen“. Deinen ganzen Besitz und schenke ihn den Armen. Schülerinnen und Schüler reagieren auf diesen Impuls von Jesus schnell und intuitiv. Sie sagen dann: Na toll, wenn ich alles, was ich habe, den Armen gebe, dann ist doch das Problem der Armut nicht gelöst. Dann gibt es nur einen neuen Armen, nämlich mich! Damit haben sie vermutlich im materiellen Sinne sogar recht und der Mann sah das ja bekanntlich genauso, weshalb er von Jesus zu hören bekam: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“.

Nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Jünger hat diese Reaktion von Jesus entsetzt. Denn Jesus fordert hier nicht nur einen Perspektivwechsel zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit – im Sinne von: Versetze Dich in die Situation der Armen hinein – sondern einen Wechsel der eigenen Lebensperspektive: Verzichte zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit auf Dein Recht im juristischen und ethischen, aber auch im materiellen Sinne, also auf Deinen Besitz, selbst wenn er hart und ehrlich erarbeitet wird. Zeige damit, dass es Dir wirklich ernst ist mit der Idee, Gerechtigkeit wiederherzustellen oder anders gesagt, dafür zu sorgen, dass wir alle wirklich wieder gleich sind, so wie es die Ebenbilder Gottes untereinander sein sollten.

Die Forderung Jesu ist eine radikale Herausforderung, bricht sie doch voll mit dem, was wir an Verhalten gewohnt sind. Sie ist in dem Sinne vergleichbar mit der Forderung Jesu, dem, der dich auf die Wange schlägt, die andere Wange hinzuhalten. Auch das ist eine große, für uns oft unmöglich zu erfüllende, Herausforderung.

Jesus verbindet diese Forderung deshalb auch mit einem weiteren Gedanken: Glaubt, vertraut auf Gott, der Euch helfen wird. Dann könnt ihr Berge versetzen und die Welt wirklich verändern. Damit ist ein letzter Aspekt benannt, der zur Gerechtigkeit dazugehört: Der für manche utopische Glaube an Gott, der mit Jesus begonnen hat, sein Reich auf Erden wieder zu erbauen, eine Welt, in der es für alle gerecht zugeht. Dieser Glaube ist die Kraft, die uns helfen kann, Gerechtigkeit zu leben. Wir sollten es zumindest versuchen und darauf hoffen, dass Gott der Richter am Ende der Zeiten das Werk vollenden wird, das Jesus begonnen hat und das wir, zumindest versucht haben, weiter fortzuführen.

Gerechtigkeit – ein Leitbegriff biblischer Ethik I

Wenn eine Großmutter ihren zwei Enkeln mit den Worten „Teilt sie gerecht“ eine Tüte Bonbons gibt, dann kann man bei kleineren Kindern darauf warten, dass es Streit gibt oder eines beleidigt ist. Die Kinder werden nämlich versuchen, genau zu sein und das heißt: Sie werden nicht nur einfach halbe halbe machen, sie werden versuchen jede Geschmacksrichtung fair zu verteilen. Was aber, wenn sich die Bonbons nicht mathematisch gerecht teilen ließen. Dann beginnen schon Kinder anderen Kriterien heranzuziehen, wie etwa „Ich bin die Ältere“ oder „Du hast gestern schon Bonbons bekommen und ich nicht“ oder „Mich mag die Oma aber mehr als Dich!“.

Auseinandersetzungen um die Gerechtigkeit begleiten uns unser ganzes Leben. Wir vergleichen unsere Noten in der Schule mit anderen und fragen uns „Ist das gerecht?“. Wir schauen auf unseren Gehaltszettel und denken darüber nach, ob es gerecht ist, wenn wir, die wir hart arbeiten, viel weniger Lohn bekommen als ein Manager in der Bank, der doch nur ein bisschen Aktien kauft und verkauft. Wir lesen von einem Verbrechen in den Nachrichten und fordern, dass der Verbrecher eine gerechte Strafe erhalten soll.

Doch, was ist gerecht? Nimmt man die angedeuteten Beispiele zum Anlass dieser Frage nachzugehen, so wird, wenn wir ehrlich sind, sehr schnell deutlich, dass wir im Alter nicht mehr über Gerechtigkeit wissen als Kinder. Gerechtigkeit scheint ein Begriff zu sein, der sich nicht fassen lässt. Was der eine als gerecht empfindet, hält der andere für ungenügend. Während der eine glaubt, dass sich Gerechtigkeit zumindest in materieller Hinsicht messen und berechnen lässt, lassen verletzte Gefühle dem anderen überhaupt keine Ruhe und damit auch keine Gerechtigkeit zu. Überhaupt fällt eines auf: Wir nehmen im Normalfall unsere Gefühle, unsere Meinung als Maßstab, um zu urteilen: Das ist gerecht! Das bedeutet aber auch: Es geht oft gar nicht um Gerechtigkeit, sondern um die Wiederherstellung dessen, was nach unserer Meinung richtig ist. Und so scheitern wir immer wieder an der Aufgabe, eine gerechte Lösung für ein Problem zu finden.

Oft ist es daher so, dass Mächtigere oder eine Mehrheit nach ihren Werten über andere hinweg entscheiden, was die gerechte Lösung für eine Problem ist. Vielleicht ist das der Grund, warum in allen Kulturen dieser Welt Gerechtigkeit eine Sache der Götter ist. Auch sie treffen eine Entscheidung, die der Mensch als gerecht zu akzeptieren hat, sei es, indem sie in das Leben der Menschen oder in das Weltgeschehen eingreifen, sei es nach dem Tod im Gericht. Doch während die Entscheidungen, die die Götter insbesondere in den antiken Kulturen der Griechen, Römer oder Germanen treffen, gelegentlich doch recht willkürlich zu sein scheinen, finden sich in der Bibel klare Leitlinien zur Definition des Begriffs Gerechtigkeit. Sie nehmen ihren Ausgang bei einem Bekenntnis: Gott ist der Gerechte!

  • Gott, so beginnt die Bibel, gab dem Menschen eine Welt, die paradiesisch war, perfekt, um darin zu leben. Ungerecht ist es also, wenn wir, etwa durch Raubbau an der Natur, die Lebensgrundlagen von Menschen zerstören.
  • Gott schuf uns Menschen und gab uns einen Auftrag: Behauen, bewahren und beherrschen. Ungerecht ist es also, wenn Menschen nicht die Möglichkeit haben, einen, ihren Gott gegebenen Gaben entsprechenden anspruchs- und sinnvollen Beruf auszuüben, weil man ihnen zum Beispiel den Zugang zu Bildungseinrichtungen vorenthielt.
  • Gott schuf uns alle als Ebenbild seiner selbst. Ungerecht ist es also, wenn Menschen ausgegrenzt, gemobbt oder auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Volk, einem Geschlecht oder aufgrund einer Behinderung abgewertet werden.
  • Gott schuf uns alle als Ebenbild seiner selbst. Er gab uns allen, genug, damit jeder mit seiner Familie ein glückliches Leben führen kann. Ungerecht ist es daher, wenn Reiche auf Kosten von Anderen immer reicher werden, wenn die die ein Schicksalsschlag im Leben getroffen hat (z.B. Kinder, die ihre Eltern verloren haben) links liegen gelassen werden.

Präimplantations- und Pränataldiagnostik

„Hättet ihr das nicht verhindern können?“ Fragen wie diese bekommen Eltern von behinderten Kindern, insbesondere Kindern mit Down-Syndrom immer wieder gestellt. Die Vorstellung dahinter ist einfach und zugleich bösartig druckvoll: Es gibt heute sehr ausgereifte Möglichkeiten der Diagnostik, angefangen mit der Präimplantationsdiagnostik bis hin zur nichtinvasiven Pränataldiagnostik mit deren Hilfe man feststellen kann, ob ein Kind eine Behinderung hat oder nicht. Dies ist zwar noch etwas pauschal formuliert, denn noch lassen sich auf diese Weise nicht alle möglichen Behinderungen diagnostizieren, aber das wird bald der Fall sein. Doch es geht hier nicht um Diagnose, sondern um Verhinderung, denn ein behindertes Kind ist, dies ist zugespitzt die Idee hinter Bemerkungen, wie der eben zitierten, doch nur ein Fehler oder ein Schaden, den man vermeiden sollte, wenn man kann.

Diese privaten Bemerkungen über Behinderte weisen auf einen gesellschaftlichen Trend hin, der sich in einer weiteren Idee spiegelt: Tests auf Behinderungen verpflichtend zu machen. Das Ziel dabei ist ein wirtschaftliches, denn je weniger Behinderte es gibt, desto weniger Kosten entstehen, die die Allgemeinheit zu tragen hat. Oder alternativ: Man könnte dann die Kosten auf die Eltern abwälzen, nach dem Motto: Warum soll die Allgemeinheit für ein Kind aufkommen, wenn die Eltern sich gezielt für ein behindertes Kind entschieden haben?

Ganz in der Tradition des Alten und Neuen Testaments muss ein Christ sich als Anwalt der Schwachen engagieren. Die Schwachen, dies sind in diesem Fall die Behinderten, die in unsere moderne, gestylte, leistungsorientierte, optimierte und sich selbst optimierende Gesellschaft nicht zu passen scheinen. Ziel muss es sein, eine wahrhaft freie Gesellschaft zu verteidigen und gegebenenfalls wieder zu etablieren, in der jeder so angenommen wird, wie er ist, in der es echte Inklusion (nicht nur ein Nebeneinanderher) statt Exklusion gibt.

Dazu gehört auch, dass die richtige Haltung gegenüber Behinderten nicht Mitleid ist, im Sinne von „Oh du armer Blinder, wie schrecklich, dass Du nichts sehen kannst“, denn diese Art von „Mitleid“ ist eigentlich nur eine Abwertung des Gegenübers ausgehend von einer Vorstellung vom Normalen. Dagegen ist festzuhalten, dass der Andere, jeder Andere, ob blind, ob mit Down-Syndrom oder Topmodell ein Geschöpf Gottes, ein Ebenbild Gottes ist. Alle Menschen sind gleich vor Gott und sollten deshalb auch untereinander gleich sein. Mitleid braucht es also nur, wenn Behinderte ausgegrenzt, benachteiligt werden, aber noch mehr als Mitleid braucht es dann nach dem Vorbild Jesu parteiisches Engagement für Gleichberechtigung.

Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle die Freiheit, die Gott dem Menschen als sein Ebenbild schenkt. Diese Freiheit steht dem noch nicht geborenen Kind, ob behindert oder nicht, aber auch der Mutter zu. Zu dieser Freiheit gehört die Verantwortung, die wir füreinander tragen. In diesem Sinne wäre es der Mutter zu wünschen, dass sie wahrnimmt und spürt, dass ihr Umfeld und die Gesellschaft ihr Kind, egal ob behindert oder nicht, als gleichberechtigtes und gleichwertiges Geschöpf Gottes in die Gemeinschaft aufnimmt. Unverantwortlich und Freiheit raubend wäre es hingegen, wenn eine Gesellschaft einer werdenden Mutter Präimplantationsdiagnostik oder Pränataldiagnostik vorschreibt. Ebenso verwerflich wäre es, wenn man die Mutter unter Druck setzen würde, eine Schwangerschaft zu verhindern bzw. abzubrechen, wenn der Test eine Behinderung anzeigt. Doch auch die Mutter zwingen zu wollen, dass sie auf keinen Fall sich und ihr Kind untersuchen lässt bzw. abtreibt, ist keine verantwortungsvolle und die uns von Gott geschenkte Freiheit wahrende Idee.

Die Freiheit, die Gott uns schenkt, bedeutet also, dass die Mutter als Geschöpf Gottes ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben hat und das heißt hier auch, dass sie die Verantwortung trägt (tragen sollte) zu entscheiden, wann sie ein Kind will, ob sie es untersuchen lassen und gegebenenfalls abtreiben lassen will. Sie ist Ebenbild Gottes und daher souverän, mit Hilfe ihrer Vernunft, ihren Gefühlen und ihrem Glauben eine Entscheidung zu treffen, die sie mit ihrem Gewissen vereinbaren kann. Sie muss sie auch verantworten können, aber – das ist wichtig – als Ebenbild Gottes allein vor Gott und nicht auch vor den Menschen.

Von der Freiheit eines Christenmenschen II

Martin Luther widmet die Schrift “Von der Freiheit eines Christenmenschen” dem Adel. Er spricht beim Reichstag zu Worms vor Adligen und Geistlichen, aber seine Botschaft kommt auch bei den einfachen Menschen an. Jene nehmen Ideen, wie die von der Freiheit des Christenmenschen gerne auf. Dabei kommt es jedoch, ohne dass Luther das gewollt hätte, zu einer politischen Interpretation. Notleidende, ausgebeutete Bauern, unterstützt und ermuntert durch radikale Theologen wie Thomas Müntzer, Andreas Bodenstein (Karlstadt) deuten den Gedanken von der Freiheit des Christen als Auftrag zum Handeln und machen sich daran, die Verhältnisse radikal zu verändern. So trägt Martin Luther zumindest insofern eine Mitschuld an dem Bauernaufstand im Jahr 1525, als er nichts gegen eine radikale und politisierende Deutung seiner Botschaft unternimmt.

Graefin_Helfenstein_von_Matthaeus_Merian_d_Ae(Gräfin Helfenstein bittet um Gnade für ihren Mann; im Hintergrund hat der Spiesrutenlauf schon begonnen)

Für diese passive Haltung Luthers gibt es sicherlich mehrere Gründe. Luther will letztendlich nur die Kirche reformieren, nicht die deutsche Gesellschaft. Er ist Theologe, kein Politiker. Er hat zudem viel Verständnis für die Situation der Bauern und ermahnt deshalb die Fürsten zum Frieden. Als es aber zur Weinsburger Bluttat kommt, muss er Stellung beziehen, und er tut dies, in dem er ganz nach dem Vorbild des Paulus, die Christen, in diesem Falle die Fürsten und die Bauern an ihre Verantwortung in der Welt erinnert, mit einem Gedanken, den er schon in seiner Schrift “Von der Freiheit eines Christenmenschen” formuliert und den er immer als gleichwertige Ergänzung neben den Satz von der Freiheit gestellt hatte:

Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.

und

indem er sich im Bauernaufstand mit der Schrift “Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern” deutlich auf die Seite der Fürsten stellt – aus historischer Sicht eine Entscheidung, die zwar einerseits den Fortbestand der reformatorischen Bewegung sichert, andererseits aber fatale Folgen für das Luthertum hat: Luther liefert das Vorbild für die bei vielen Lutheraner zu beobachtende Obrigkeitstreue, die das Luthertum auch im Dritten Reich lähmt.

Dabei, das muss hier gerade mit Blick auf die anderen reformatorischen Strömungen, insbesondere die Reformierten, betont werden, bestand noch eine weitere Möglichkeit, den Satz von der Freiheit des Christenmenschen (zuzüglich der Vorstellung vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen) zu deuten: Als starker Impuls für die Idee von der Gleichheit aller Menschen und damit für die Demokratie. Zumindest in den reformierten Gebieten wird letztere tatsächlich schon mit Einführung der Reformation erprobt.

Von der Freiheit eines Christenmenschen I

Martin Luther war der, auf den viele deutsche Fürsten gewartet hatten. Sie litten unter anderem darunter, dass die katholische Kirche mit ihrem hohen Finanzbedarf, etwa für den Bau des Petersdoms in Rom, ihre Untertanen schröpfte. Da waren Luthers Predigten und Schriften gegen den Ablass sehr willkommen. Sehr gespannt warteten die Fürsten darauf, wie sich die Auseinandersetzung zwischen Luther und der katholischen Kirche weiterentwickeln würde.

Luther wiederum, der ursprünglich angenommen hatte, dass der Papst vom Ablasshandel in Deutschland nichts wusste, musste bald erkennen, dass er sich geirrt hatte. Die kritische Auseinandersetzung und Diskussion über die Missstände, die sich Luther gewünscht hatte, fanden nicht statt. Im Gegenteil: Die katholische Kirche reagierte mit Druck und ihrer schärfsten Waffe, der Androhung des Banns. Luther brauchte also Verbündete und er suchte sie bei den Fürsten. Es ist daher kein Zufall, dass sich Luther mit der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ „An den christlichen Adel deutscher Nation“ wendet.

Sehr klar formulierte Luther dort einen Gedanken, den viele Fürsten, aber auch Städte dankbar aufnahmen: Ein Mensch, der sich Gott öffnet und die Liebe Gottes annimmt, ist ein freier Herr und niemandem untertan. Er muss sich nicht beeindrucken lassen von Äußerlichkeiten wie bischöflichen Gewändern, kirchlichen Amtstiteln oder Weihen, selbst wenn sie der Papst selbst gegeben hätte. Diese Dinge sind, so Luther, fleischlicher Natur und damit irrelevant. Entscheidend ist der Glaube und in diesem sind alle gleich, weil Gott jeden gleich liebt und annimmt.

Damit wischt Luther einen zentralen Baustein der katholischen Lehre beiseite: Die durch die „Konstantinische Schenkung“ begründete und mit dem „Gang nach Canossa“ durchgesetzte Überordnung des geistlichen (= im katholischen Verständnis kirchlichen) Standes über den sogenannten weltlichen oder Laienstand. Der Christ muss den Vorschriften und Vorstellungen der Kirche nicht folgen, um Gott zu gefallen. Er darf selbst die Bibel lesen, sie selbst deuten, er darf selbst Gebete formulieren und ethische Entscheidungen treffen. Es gibt keinen Unterschied zwischen geistlichem Stand (Pfarrer, Bischöfe, Papst) und weltlichem Stand, im Gegenteil, alle sind nach Luther in der Kirche gleich – das berühmte allgemeine Priestertum aller Gläubigen.

Luther gibt den Fürsten und Städten damit das Recht in die Hand, die Reform der Kirche selbst in die Hand zu nehmen und sich von Rom zu emanzipieren. Ein Angebot, das gerne angenommen wurde und so verlief der Reichstag zu Worms 1521 auf Druck der Fürsten anders als sich das Kaiser Karl V und der Papst (bzw. sein Nuntius) vorgestellt hatten. Luther bekam den Raum, den er brauchte, um seine Ansichten darzustellen und, auch wenn er den Kaiser und den päpstlichen Nuntius nicht überzeugen konnte, viele Anwesende beeindruckte er durch seine Haltung, in der er die Freiheit des einzelnen Christen zum Ausdruck brachte: Ich unterwerfe mich nicht einfach der Autorität der Kirche oder der Tradition. Ich will überzeugt sein, durch Gründe aus der Schrift und der Vernunft, die ich auch mit meinem Gewissen vereinbaren kann.

Wann beginnt menschliches Leben VIII – wenn zukunftsbezogene Wünsche nachweisbar sind

Speziesismus mit diesem Begriff beschreibt der Präferenzutilitarismus, prominent vertreten durch P. Singer, eine neue (und doch eigentlich sehr alte) Form menschlichen Fehlverhaltens. Speziesismus steht in einer Reihe mit Rassismus und Sexismus, ist eigentlich ebenso absolut verwerflich, wird aber ebenso immer wieder leider praktiziert. Speziesismus, das ist die Idee, dass etwas, was menschliche Gene hat, etwas Besonderes sei, schützenswert, Träger von Menschenrechten… Dies ist, folgt man dem Präferenzutilitarismus ebenso wirr und falsch, wie zu glauben, dass ein Farbiger ein schlechterer Mensch sei, als ein Weißer. Oder anders gesagt: Was im Hinblick auf Rassismus und Sexismus gilt, sollte auch in Bezug auf den Speziesismus gelten: Nicht etwas Ontologisches wie die Hautfarbe, das Geschlecht oder eben die Anwesenheit menschlicher Gene macht den Menschen zum Menschen, sondern sein Person sein ist es, das ihn zum Menschen macht.

Ab wann menschliches Leben beginnt ist deshalb, um Speziesismus zu verhindern, nicht ontologisch, sondern moralisch zu definieren. Eine geeignete Leitfrage wäre dabei: “Welche Eigenschaften sind für uns in Bezug auf das Töten von Lebewesen bedeutsam”. Schnell kommt man hier auf Begriffe, die recht konsensfähig sind: Ist das Lebewesen sich seiner selbst bewusst, hat es Wünsche und Interessen?

Hier ist nun freilich noch Präzision gefragt: Pflanzen, Tiere sind sich in gewisser Weise ihrer selbst und ihrer Umgebung bewusst. Sie haben auch den Wunsch zu überleben. Trotzdem töten wir sie regelmäßig, etwa auf der Suche nach Nahrung. Wir haben zwar manchmal Skrupel, etwa wenn uns das Tier mit treuen braunen Augen anschaut – aber wissenschaftlich besehen sind das nur Projektionen von unseren Gefühlen in das Tier hinein. Wirklich verwerflich ist für uns das Töten von Lebewesen erst dann, wenn klar ist, dass das betreffende Tier ein echtes Bewusstsein von sich selbst, von Zeit und Raum hat, wenn wir nachweisen können und sicher wissen, dass es sich erinnert, dass es seine Zukunft planen kann, dass es Wünsche für die Zukunft hat. Bei Delfinen etwa ist dies der Fall.

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Bezogen auf den Menschen heißt dies: Nach ehrlicher, objektiver und wissenschaftlicher Erkenntnis, ist weder die befruchtete Eizelle, noch der Embryo und auch nicht das Neugeborene besonders schützenswert. Sie gehören zwar zur menschlichen Spezies, haben das Potential sich zu einer Person zu entwickeln, aber sie sind es (noch) nicht. Denn, was unterscheidet das Baby von einer Schnecke – nichts. Das Baby ist sich, wie die Schnecke seiner Umgebung grob bewusst. Die Schnecke und das Baby haben Wünsche, z.B. wollen beide essen. Über diese primitiven Wünsche und Formen des Bewusstseins geht es jedoch nicht hinaus und so macht es keinen Unterschied, ob ich eine Schecke töte oder ein Baby: Ich zerstöre ein Leben, dass Essen will, das Wärme sucht… nicht mehr (auch wenn das Baby vielleicht in der Zukunft mal anders sein könnte).

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Damit verschiebt sich der Beginn des menschlichen Lebens, insofern es als schützenswert zu betrachten ist, als Träger von Menschenrechten – in der Terminologie des Präferenzutilitarismus – des Personseins nach hinten in das Kleinkindalter. Erst hier sind zukunftsbezogene und zunehmend abstraktere Wünsche und Interessen nachweisbar.

Nachtrag: Bitte beachten: Delfine und einige andere Tiere sind für Präferenzutilitaristen ebenso Personen und damit grundsätzlich genauso schützenswert wie ein Jugendlicher oder Erwachsener Mensch…

Wann beginnt menschliches Leben? Teil VII – mit dem ehelichen Akt

Wann beginnt menschliches Leben? Ein Blick in die Natur reicht aus, um diese Frage zu beantworten: Ein Löwe sieht eine Löwin; ein Amselmännchen ein Amselweibchen, ein Hunderüde ein Hundeweibchen… er erkennt, ob sie läufig ist oder nicht und falls sie es ist, folgen drei Schritte: Die Ausschaltung von Konkurrenz, die Balz und bei Erfolg: Die Begattung. So funktioniert das im Prinzip in der Natur. Und, warum nicht auch beim Menschen, er ist doch letztlich auch nur Natur? Menschliches Leben begänne dann mit dem im richtigen Moment zur Zeugung vollzogenen Geschlechtsakt.

Nun gut, so einfach wie bei den Tieren ist es beim Mensch dann doch nicht. Immerhin gibt es bei uns keine Kämpfe zwischen den Männchen um die Weibchen. Immerhin können Männer, die durch eine Stadt laufen, auf Befragen nicht sagen, welche der Frauen, die ihnen begegnen, sich gerade in der Follikelphase befinden. Wir riechen das nicht (siehe dazu aber die neuere Forschung). Das ist außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung und vor allem unseres Selbstverständnisses, denn wir glauben uns dadurch vom Tier zu unterscheiden, dass wir die Dinge vernünftig angehen. Wir überlegen uns (im Idealfall) gründlich, an wen wir uns binden, planen, wann und wie viele Kinder wir bekommen… Und ja, zugegeben, machmal sind wir nicht vernünftig, geht die Natur mit uns durch, aber auch dann wissen wir uns zu helfen, die Dinge zu kontrollieren, mit Trennung oder Scheidung, Pille, Kondom und notfalls auch mit der Pille danach oder einer Abtreibung.

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So unterscheidet uns vom Tier zum einen die Fähigkeit gezielt und bewusst ein Beziehung einzugehen, ein Kind zu wollen oder nicht und zum anderen ein anderes Verhältnis zu unserer eigenen Sexualität: Wir haben Sex nicht nur um Kinder zu zeugen, sondern auch um der Lust willen, weil es schön ist…

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Genau an dieser Stelle setzt nun jene von strengen Katholiken und Evangelikalen vertretene Position ein, die es im Folgenden darzustellen gilt. Ihr Credo: Sex ist nur dann gut, wenn er innhalb der Ehe der Zeugung eines Kindes dient. Wer Sex in der Absicht hat, kein Kind zu zeugen, wer vor oder außerhalb der Ehe Sex hat, handelt gegen die Natur.

Bewusst war hier “nur” von einem Handeln gegen die Natur die Rede, denn die Verfechter dieser Position sehen in der Natur das Gute, das Gott gewollte und damit auch das Vorbild für das, was der Mensch tun sollte und tun könnte. Wie die Tiere soll der Mensch, so heißt es in der Schöpfungsgeschichte, fruchtbar sein und sich vermehren und – wie bei so mancher Tierart – dazu einen Partner auf Lebenszeit haben.

Warum aber handelt der Mensch anders, widernatürlich? Warum hat er Sex um der Lust willen, nur weil es schön ist? Warum verhindert er die Entstehung von menschlichen Leben etwa durch den Gebrauch von Kondomen und sündigt so gegen die Natur, seine Natur und gegen Gott? Er tut dies, folgt man den Vertretern dieser Position, nicht etwa, weil er “besser” wäre als die Tiere, weil er etwa seine Instinkte kontrollieren könnte, weil er vernünftig erkannt hätte, dass es wichtig wäre auf Geburtenkontrolle zu achten… Nein, der Mensch tut dies, weil er seit dem Sündenfall mit der Erbsünde belastet ist. Diese, so lehrte es bereits der Kirchenvater Augustin, führt dazu, dass er insbesondere in der Sexualität die Lust sucht, darauf fixiert ist und den wahren Zweck der Sexualität fast vergisst, bzw. der eigenen Lust unterordnet.

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(siehe auch: wahre Liebe wartet)

Die Erbsünde ist unser aller Last, wir alle tragen sie in uns. Sie prägt unser Handeln und lässt uns oft nur an unsere Lust denken. Dies nun so stehen zu lassen, käme freilich einem Euphemismus, einer grob fahrlässigen Verharmlosung der Wahrheit gleich. Denn diese Lust ist nicht schön, das ist nur oberflächlich und für eine kurze Zeit so, sie ist vielmehr die Quelle der Sünde. Wir verführen einander, wecken Hoffnungen im Anderen, brechen einander oder nur einer dem anderen die Herzen oder gar die Ehe des anderen und warum? Um der Lust willen. Um der Lust willen haben wir Sex und “oje, ein Unfall! sie könnte schwanger werden oder sie ist aus Versehen schwanger geworden” wir töten Leben, entwerten menschliches Leben zum “Zellhaufen”, den man doch mit Pille danach oder Abtreibung problemlos entfernen kann, damit der weiteren freien Entfaltung der Lust und unseres Selbsts nichts im Wege stehe…

Gegen die Erbsünde zu kämpfen ist heilsnotwendig für den Menschen. Es ist gegen die Natur, gegen Gott abzutreiben oder zu verhüten, denn unsere Sexualität ist uns zu einem einzigen Zweck gegeben: Zur Zeugung von Kindern, zur Erfüllung des Schöpfungsauftrags, unserer Natur. Und weil dies die einzige Bestimmung unserer Sexualität ist, ist es auch richtig zu sagen, dass das menschliche Leben mit dem Geschlechtsakt und im Idealfall mit dem ehelichen Akt beginnt. Wer dies anders sieht, der tut dies, weil er der Erbsünde nachgibt und daher glaubt, Sexualität habe in der Befriedigung der Lust einen eigenen Wert…

Wann beginnt menschliches Leben? Teil VI – mit Ausschluss der Zwillingsbildung

Thomas v. Aquin, dem großen Scholastiker verdanken wir eine sehr klare und wirksame Definition des Begriffes Person: Eine Person ist ein Individuum, das fähig ist, seinen ganzen Lebenszyklus mit durchhaltender Identität zu erleben. Oder anders gesagt: Ich nehme mich jetzt als Schreiber dieses Blogs wahr und ich weiß im selben Moment auch, dass ich derselbe bin, wie der, der im Jahr 1998 für mehrere Monate in Australien war, wie der, der sich mit 5 Jahren die Lippe so heftig aufgeschlagen hat, dass sie genäht werden musste… und ich weiß auch (ich hoffe es zumindest), dass ich morgen derselbe sein werde, wie ich heute bin.

Doch, wann beginnt diese meine durchgängige durchhaltende Identität? Ich war vermutlich schon ich als ich zwei Jahre alt war, nur, daran erinnere ich mich nicht mehr (obwohl es, folgt man der Psychologie, hier möglich sein sollte alte Erinnerungen wieder zu erwecken). Ich erinnere mich sehr wohl an die Stimme meiner Mutter, ich erinnere mich jedoch nicht daran, dass ich mir diese schon in ihrem Bauch gemerkt habe (Wissenschaftler gehen allerdings davon aus, dass wir das können). Es ist also sehr schwer über Erinnerungen oder ein Nachdenken über das eigene Ich einen korrekten Anfang der eigenen Identität zu finden.

Damit ist eines klar: So sehr dieser Ansatz zur Definition des Begriffes Person unserer eigenen Selbstwahrnehmung entspricht, so schwer ist es, einen objektiven Punkt zu benennen, an dem unsere durchgängige Identität beginnt und der dann, im Idealfall, auch noch für alle gleich ist. Zum Glück kommen uns an dieser Stelle Beobachtungen der Biologen über die Qualität und Fähigkeiten der ersten menschlichen Zellen, nach der Verschmelzung der Vorkerne zur Hilfe.

So sind die ersten aus der befruchteten Eizelle entstehenden Zellen omnipotent, sie können alles werden, alles sein. Nicht zufällig ist es in dieser Phase der Entwickung auch noch jederzeit möglich, dass Zwillinge entstehen. Erst nach Abschluss der Gastrulation, mit der Entstehung der drei Keimblätter, der Neuralplatte und nicht zuletzt mit der Entstehung des ersten Organs, des Blutsystems, hat sich etwas Entscheidendes verändert: Gab es vorher nur ein Beiandersein von fusions- und entwicklungsfähigen Zellen, so ist gegen Ende der dritten Woche ein neues Individuum ins Dasein getreten. Ab jetzt existiert eine Einheit, der sich die einzelnen Zellen mit ihrem Entwicklungspotential unterordnen, sie spezifizieren sich immer mehr für das Wohl der Einheit.

Zwei Dinge sind für die Festlegung auf diesen Zeitpunkt entscheidend: Die Entstehung eines ersten , die Einheit verbindenden und stärkenden Organs und noch vorher die Bildung des Primitivstreifens, der die Basis für die Einheit ist. Entsteht er nicht, so entsteht gar nichts, entstehen zwei, so entstehen Zwillinge … in jedem Fall aber, ist er das Band, dass die einzelnen Zellen mit ihren Entwicklungsmöglichkeiten integriert und zu einem Organsimus formt.

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Damit ist eine klare Grenze gesetzt, wann menschliches Leben beginnt. Mit der Bildung des Primitivstreifens beginnt die durchhaltende Identität, entsteht die Person. Folgt man dem Theologen N.M. Ford dann macht es auch Sinn anzunehmen, dass erst in diesem Moment die Beseelung stattfindet. Vorher ist der Mensch noch nicht. Vorher gibt es nur ein Vorstadium zum Menschen, aus dem sich noch alles entwickeln kann, z.B. eben auch zwei Menschen…

Wann beginnt menschliches Leben? Teil IV – wenn unser Gehirn funktioniert

Seit Jahrzehnten streitet sich die deutsche Gesellschaft über den Beginn des menschlichen Lebens. Es ist ein Streit, der manchmal schwelt, manchmal heftig ausbricht – man denke nur an jene Zeiten, als die Zeitschrift “Stern” titelte “Wir haben abgetrieben!” (6.6.1971) und der Streit um Paragraph 218 Strafgesetzbuch seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Heftig gestritten, wenngleich mit deutlich weniger öffentlicher Leidenschaft, wurde in der Gegenwart unter anderem um die Forschung an Embryonen. In all diesen Fällen wurden mit der Zeit Lösungen gefunden, gesetzliche Regelungen geschaffen, die der Mehrheitsmeinung zu entsprechen scheinen, nur eines gab es nicht: einen gesellschaftlichen Konsens. Und so stehen in der Gegenwart immer wieder Befürworter der Pille, der Abtreibung, der Embryonenforschung entsprechenden Gegnern gegenüber und dabei gilt dann auch noch, dass es längst nicht gesagt ist, dass der, der etwa eine Abtreibung für vertretbar hält, die Forschung an Embryonen befürwortet.

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(Abtreibungsgegner in München, 10.5.2014
Quelle: ETIENjones / Shutterstock.com)

In dieser festgefahrenen Situation, in der es fast ausgeschlossen zu sein scheint, dass eine Definition zum Beginn des menschlichen Lebens breite Zustimmung findet und damit konsensfähig ist, tut es gut, einmal in eine andere Richtung zu schauen: Ans Ende des menschlichen Lebens. Und das erstaunliche ist: Hier hat die deutsche Gesellschaft zu einem Konsens gefunden, hier gibt es keine sich teilweise widersprechenden Regelungen, wie es sie in den den Anfang des Lebens betreffenden Gesetzen gibt (Abtreibung ist erlaubt – Forschung an Embryonen nicht). Hier ist klar: Ein Mensch ist tot, wenn der Hirntod eingetreten ist, wenn sichergestellt ist, dass nicht nur Teile des Gehirns, sondern Großhirn und Hirnstamm so irreversibel geschädigt sind, dass sie nicht mehr funktionieren.

Diese Beobachtung ist die Basis der Position, die Hans-Martin Sass, Vertreter der Differenzialethik, die sich um weltanschauliche Offenheit, Orientierung an der Person und Situation ebenso bemüht, wie um den gesellschaftlichen Konsens in der Entscheidungsfindung, einnimmt: Wenn es doch konsensfähig ist, dass das menschliche Leben in dem Moment endet, in dem das Hirn aufhört zu funktionieren, warum soll man dann nicht annehmen, dass menschliches Leben dann beginnt, wenn das Gehirn anfängt zu funktionieren?

Bliebe nur noch die Frage, wann genau man davon ausgehen kann, dass das Gehirn als solches Funktionstüchtigkeit erlangt hat. Und auch hier lohnt sich ein Rückblick auf die Diskussionen und Gedanken, die zu der in Deutschland gültigen Hirntodregelung geführt haben: Es darf kein Zweifel bestehen, dass das Gehirn sich nicht doch noch erholt oder dass Teile desselben eigenständig funktionieren. Der kleinste Hinweis darauf, dass der Patient zum Beispiel das Locked-in-Syndrom haben könnte, verhindert somit, dass der Betreffende für Tod erklärt wird.

Überträgt man dies auf die Frage nach dem Anfang des Lebens, folgt daraus, dass eine Definition eigentlich dann konsensfähig sein müsste, wenn sie festlegt, dass menschliches Leben in dem Moment beginnt, in dem das Gehirn anfängt funktionsfähig zu werden, konkret etwa am siebzigsten Tag nach der Empfängnis. Nachweisbar sind dann im Kortex Synapsen, die die isolierten Neuronen vernetzen, Neuronenansammlungen und erste Tendenzen zu einer Teilung des Hirns. Ab diesem Zeitpunkt könnte der Embryo z.B. schon licht- und schmerzempfindlich sein und damit würde für ihn das gelten, was auch für einen Menschen mit dem apallischen Syndrom gilt: Niemand würde ihm das Leben nehmen…