Wann beginnt menschliches Leben? Teil VII – mit dem ehelichen Akt

Wann beginnt menschliches Leben? Ein Blick in die Natur reicht aus, um diese Frage zu beantworten: Ein Löwe sieht eine Löwin; ein Amselmännchen ein Amselweibchen, ein Hunderüde ein Hundeweibchen… er erkennt, ob sie läufig ist oder nicht und falls sie es ist, folgen drei Schritte: Die Ausschaltung von Konkurrenz, die Balz und bei Erfolg: Die Begattung. So funktioniert das im Prinzip in der Natur. Und, warum nicht auch beim Menschen, er ist doch letztlich auch nur Natur? Menschliches Leben begänne dann mit dem im richtigen Moment zur Zeugung vollzogenen Geschlechtsakt.

Nun gut, so einfach wie bei den Tieren ist es beim Mensch dann doch nicht. Immerhin gibt es bei uns keine Kämpfe zwischen den Männchen um die Weibchen. Immerhin können Männer, die durch eine Stadt laufen, auf Befragen nicht sagen, welche der Frauen, die ihnen begegnen, sich gerade in der Follikelphase befinden. Wir riechen das nicht (siehe dazu aber die neuere Forschung). Das ist außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung und vor allem unseres Selbstverständnisses, denn wir glauben uns dadurch vom Tier zu unterscheiden, dass wir die Dinge vernünftig angehen. Wir überlegen uns (im Idealfall) gründlich, an wen wir uns binden, planen, wann und wie viele Kinder wir bekommen… Und ja, zugegeben, machmal sind wir nicht vernünftig, geht die Natur mit uns durch, aber auch dann wissen wir uns zu helfen, die Dinge zu kontrollieren, mit Trennung oder Scheidung, Pille, Kondom und notfalls auch mit der Pille danach oder einer Abtreibung.

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So unterscheidet uns vom Tier zum einen die Fähigkeit gezielt und bewusst ein Beziehung einzugehen, ein Kind zu wollen oder nicht und zum anderen ein anderes Verhältnis zu unserer eigenen Sexualität: Wir haben Sex nicht nur um Kinder zu zeugen, sondern auch um der Lust willen, weil es schön ist…

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Genau an dieser Stelle setzt nun jene von strengen Katholiken und Evangelikalen vertretene Position ein, die es im Folgenden darzustellen gilt. Ihr Credo: Sex ist nur dann gut, wenn er innhalb der Ehe der Zeugung eines Kindes dient. Wer Sex in der Absicht hat, kein Kind zu zeugen, wer vor oder außerhalb der Ehe Sex hat, handelt gegen die Natur.

Bewusst war hier “nur” von einem Handeln gegen die Natur die Rede, denn die Verfechter dieser Position sehen in der Natur das Gute, das Gott gewollte und damit auch das Vorbild für das, was der Mensch tun sollte und tun könnte. Wie die Tiere soll der Mensch, so heißt es in der Schöpfungsgeschichte, fruchtbar sein und sich vermehren und – wie bei so mancher Tierart – dazu einen Partner auf Lebenszeit haben.

Warum aber handelt der Mensch anders, widernatürlich? Warum hat er Sex um der Lust willen, nur weil es schön ist? Warum verhindert er die Entstehung von menschlichen Leben etwa durch den Gebrauch von Kondomen und sündigt so gegen die Natur, seine Natur und gegen Gott? Er tut dies, folgt man den Vertretern dieser Position, nicht etwa, weil er “besser” wäre als die Tiere, weil er etwa seine Instinkte kontrollieren könnte, weil er vernünftig erkannt hätte, dass es wichtig wäre auf Geburtenkontrolle zu achten… Nein, der Mensch tut dies, weil er seit dem Sündenfall mit der Erbsünde belastet ist. Diese, so lehrte es bereits der Kirchenvater Augustin, führt dazu, dass er insbesondere in der Sexualität die Lust sucht, darauf fixiert ist und den wahren Zweck der Sexualität fast vergisst, bzw. der eigenen Lust unterordnet.

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(siehe auch: wahre Liebe wartet)

Die Erbsünde ist unser aller Last, wir alle tragen sie in uns. Sie prägt unser Handeln und lässt uns oft nur an unsere Lust denken. Dies nun so stehen zu lassen, käme freilich einem Euphemismus, einer grob fahrlässigen Verharmlosung der Wahrheit gleich. Denn diese Lust ist nicht schön, das ist nur oberflächlich und für eine kurze Zeit so, sie ist vielmehr die Quelle der Sünde. Wir verführen einander, wecken Hoffnungen im Anderen, brechen einander oder nur einer dem anderen die Herzen oder gar die Ehe des anderen und warum? Um der Lust willen. Um der Lust willen haben wir Sex und “oje, ein Unfall! sie könnte schwanger werden oder sie ist aus Versehen schwanger geworden” wir töten Leben, entwerten menschliches Leben zum “Zellhaufen”, den man doch mit Pille danach oder Abtreibung problemlos entfernen kann, damit der weiteren freien Entfaltung der Lust und unseres Selbsts nichts im Wege stehe…

Gegen die Erbsünde zu kämpfen ist heilsnotwendig für den Menschen. Es ist gegen die Natur, gegen Gott abzutreiben oder zu verhüten, denn unsere Sexualität ist uns zu einem einzigen Zweck gegeben: Zur Zeugung von Kindern, zur Erfüllung des Schöpfungsauftrags, unserer Natur. Und weil dies die einzige Bestimmung unserer Sexualität ist, ist es auch richtig zu sagen, dass das menschliche Leben mit dem Geschlechtsakt und im Idealfall mit dem ehelichen Akt beginnt. Wer dies anders sieht, der tut dies, weil er der Erbsünde nachgibt und daher glaubt, Sexualität habe in der Befriedigung der Lust einen eigenen Wert…

Martin Luther – die zwei Reiche Lehre I

Was mag sich Angela Merkel gedacht haben, als Papst Benedikt XVI am 22.9.2011 in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag den deutschen Staat unter Berufung auf Augustin in die Nähe einer Räuberbande rückte? Ob sie, die Tochter eines evangelischen Pfarrers, in diesem Moment an Martin Luther gedacht hat? Wir wissen es nicht. Denkbar aber wäre es, denn Martin Luther hat gerade auch in der Auseinandersetzung mit derart dominanten Ansprüchen  der katholischen Kirche seine zwei Lehre von den zwei Regimenten Gottes entwickelt, die Karl Barth später die “Zwei-Reiche-Lehre” nannte. Bewusst bezieht sich er, anders als die katholische Kirche, die ihre Deutung des Staates auf Apk 13 (der Staat als Diener des Teufels) aufbaut, dabei auf Röm 13: Jede Obrigkeit ist von Gott.

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Der Staat ist deshalb nach Luther eine eigenständige, der Kirche gleichwertige Ordnungsstruktur, mit der Gott auf der Erde Gutes bewirken will. In diesem Sinne haben beide Reiche, je ihre eigenen Aufgaben. Der Staat ist für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Verteidigung des Landes und für das allgemeine Wohlergehen der Bürger zuständig. Er hat zur Erfüllung seiner Aufgaben seine eigenen Mittel, insbesondere das Schwert – Symbol für das Recht des Staates auch mit Gewalt Recht und Gerechtigkeit zu erhalten und wieder herzustellen. Die Kirche wiederum ist für die Verkündigung des Wortes Gottes, die Seelsorge und die Diakonie zuständig. Ihr Mittel ist wesentlich das geistliche Schwert, das Wort, konkreter Gesetz (Erinnerung an den Willen Gottes und an seine Gebote) und Evangelium (die frohe Botschaft von Jesus, der für unsere Sünden gestorben ist).

Das Binnenverhältnis beider Regimenter ist vorrangig durch die Begriffe Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit gekennzeichnet. Hinzukommen aber noch der Auftrag, sich gegenseitig zu unterstützen – nochmals beide wollen ja im Idealfall das Gute -, sich gegenseitig aber auch zu kontrollieren und im schlimmsten Fall einzugreifen bzw. Widerstand zu leisten, wenn der andere seine Aufgaben nicht mehr erfüllt oder sich in den Aufgabenbereich des anderen einmischt. Letzteres war aus der Sicht Luthers zu seiner Zeit gegeben: So ermutigte er die Fürsten Deutschland zum Widerstand gegen eine Kirche, die sich das Recht nahm, den Staat zu dominieren. Letzteres wäre sicherlich auch zu Zeiten des Dritten Reiches viel stärker gefragt gewesen. Hier hätte die evangelische Kirche einem Staat, der sich nicht nur in die kirchliche Arbeit einmischte, sondern auch selbst religiöse Züge annahm,  deutlich Widerstand leisten müssen.

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Das Versagen der evangelisch-lutherischen Kirche im Dritten Reich, die nicht oft genug und nicht geschlossen genug Widerstand leistete, ist sicherlich auf eine Vielfalt von Gründen zurückzuführen. Ein Aspekt dabei ist aber, dass Luther um die Eigenständigkeit und die Gleichwertigkeit des Staates gegenüber der Kirche zu betonen, Röm 13 in den Vordergrund rückte. Ein Satz, der isoliert besehen, eben auch so gedeutet werden kann, dass auch der Führer eine von Gott verordnete Obrigkeit ist. Und ja, leider wurde Luther selbst zu einem Vorbild für all jene, die es in dieser Zeit als legitim ansahen, wenn der Staat gegen seine eigenen Bürger vorging, denn Luther stellte sich auf die Seite der Fürsten, als diese die Bauernaufstände blutig niederschlugen…

Trotzdem bleibt eines aus evangelischer Sicht bestehen: Staat und Kirche sind zu trennen. Beide sind Ordnungsstukturen, die Gott gegeben hat, um für die Menschen Gutes zu bewirken. Aber, dies ist die Erkenntnis aus der Geschichte, es ist wichtig, dass sich Kirche und Staat gegenseitig kontrollieren, um sich so gegenseitig dazu zu motivieren, genau dieses Gute auch zu bewirken und sich gegenseitig davon abzuhalten, falsche Wege einzuschlagen.

Augustin “De civitate Dei”

Was sind überhaupt Reiche, wenn die Gerechtigkeit fehlt, anderes als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche. Sie sind eine Schar von Menschen, werden geleitet durch das Regiment eines Anführers, zusammengehalten durch Gesellschaftsvertrag und teilen ihre Beute nach Maßgabe ihrer Übereinkunft. Wenn eine solche schlimme Gesellschaft durch den Beitritt verworfener Menschen so ins große wächst, daß sie Gebiete besetzt, Niederlassungen gründet, Staaten erobert und Völker unterwirft, so kann sie mit Fug und Recht den Namen „Reich“ annehmen, den ihr nunmehr die Öffentlichkeit beilegt, nicht als wäre die Habgier erloschen, sondern weil Straflosigkeit dafür eingetreten ist. Hübsch und wahr ist der Ausspruch den ein ertappter Seeräuber Alexander dem Großen gegenüber getan hat. Auf die Frage des Königs, was ihm denn einfalle, daß er das Meer unsicher mache, erwiderte er mit freimütigem Trotz: „Und was fällt dir ein, daß du den Erdkreis unsicher machst? aber freilich, weil ich es mit einem armseligen Fahrzeug tue, nennt man mich einen Räuber, und dich nennt man Gebieter, weil du es mit einer großen Flotte tust.“ (Aurelius Augustin, De Civitate Dei IV. Buch)

Dieser Gedankengang ist letztlich der Ausgangspunkt der Rede von Papst Benedikt vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011. Der Papst erinnert in diesem Zusammenhang, wie nicht anders zu erwarten, an das Dritte Reich, das sicherlich ein gutes Beispiel für einen Staat ist, dem jedes Bewusstsein von Recht und Gerechtigkeit abhanden gekommen ist. Aber es ist nicht die Absicht des Papstes, in der Vergangenheit zu verharren. Im Gegenteil, er nutzt das Beispiel von Augustin und die Erinnerung an die deutsche Geschichte, um den Parlamentariern deutlich zu machen, dass sie selbst auch in der Gefahr stehen, den Bezug zu Recht und Gerechtigkeit zu verlieren:

Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganzes ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verwiesen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden. Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, daß wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.
(zitiert nach dem entsprechenden Protokoll des deutschen Bundestages – zur Quelle)

 In schöne Worte verpackt findet sich hier jener Gedankengang wieder, den die katholische Kirche schon seit Augustin unablässig wiederholt und durchzusetzen sucht: Ein Staat, der sich nicht von der katholischen Kirche führen lässt, ist eine Räuberbande. Dabei ist es dann letztlich fast schon egal, ob dieser Staat in seiner Ausrichtung nationalsozialistisch ist oder ob er sich der Demokratie oder den Grundsätzen der Vernunft und positiv – d.h. empirisch – nachgewiesenen Grundsätzen verpflichtet fühlt. Entscheidend ist die Stellung des Staates zum göttlichen Wort, das durch die Kirche verkündigt wird. Und hier sieht der Papst eindeutige Defizite auch in der gegenwärtigen deutschen parlamentarischen Demokratie, denn in dieser ist die Kirche nur eine “Subkultur” oder eine Interessensvertretung unter vielen, obwohl sie allein es ist, die dem Staat den Weg zu gerechtem Handeln zeigen kann.

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Heinrich IV beim Gang nach Canossa – oben im Fenster Papst Gregor

An dieser Stelle könnte man nun freilich einwenden, dass die Kirche selbst in der Vergangenheit oft als moralische Instanz versagt habe. Man denke hier nur an die sehr weltlich orientierten Borgia-Päpste oder Papst Pius XI bzw. Papst Pius XII und ihr Verhalten zu den Verbrechen des Dritten Reiches. Doch wer daraus schließt, dass die Kirche deshalb nicht geeignet sei, dem Staat den rechten Weg zu zeigen, der irrt, denn schon Augustin wusste mit diesem Einwand umzugehen. Sehr fein unterscheidet Augustin zur Entgegnung dieses Einwurfs zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche. Während erstere aus echten Christen und Scheinchristen besteht und jene Kirche ist, die uns im Alltag begegnet, so ist letztere die wahre Kirche und besteht aus den lebenden und verstorbenen Heiligen. Beide Kirchen sind aus der Sicht Augustins in vielen Fällen deckungsgleich, doch da es immer wieder Momente gibt, in denen die Scheinchristen das Ruder an sich reißen, kann es passieren, dass sich die Kirche auch einmal falsch verhält. Aber, so Augustin, der Staat hat trotzdem keine Wahl, will er dem Dasein als Räuberbande entkommen. Er muss sich unter die Herrschaft der Kirche stellen.

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(Papst Pius XI mit Triara – der dreifachen Krone)