Diskursethik (und Kontraktualismus)

Wer hat entschieden, als Stuttgart 21 gebaut werden sollte? Wer entscheidet heute darüber, ob Banken, Staaten gerettet werden sollen? Es sind die von uns gewählten Volksvertreter, die ihrerseits beraten werden von Experten, Lobbyisten und Beamten aus den jeweiligen Ministerien. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden und trotzdem beschleicht große Teile der Bevölkerung immer wieder das Gefühl, “die da oben” würden einfach tun und lassen, was sie wollen oder noch schlimmer, “die da oben” würden das tun, was ihnen die international agierenden Konzerne und Banken vorgeben. Stuttgart 21 ist ein gutes Beispiel dafür, dass dieses Gefühl, von Regierung, Politikern und Konzernen einfach Ignoriert zu werden, nicht nur zu der inzwischen berühmten Politikverdrossenheit führt, sondern auch zum offenen Protest. Und auch dies ist besonders beachtlich: Es waren nicht Randgruppen der Gesellschaft, die in Stuttgart auf die Straße gingen, sondern Bürger, die Mitte der Gesellschaft.

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Mit der von Jürgen Habermas im Kontext der 68er Bewegung entwickelten Diskursethik entstand ein ethisches Modell, das der besseren Einbindung der Gesellschaft in die Entscheidungsfindung dienen könnte. Habermas selbst versteht sein Modell als Weiterentwicklung der Pflichtethik Kants. Dessen Ethik sei, so Habermas, in der Gegenwart nicht mehr umsetzbar, weil der Einzelne in einer immer komplexer und unüberschaubarer werdenden Welt schlichtweg nicht mehr in der Lage ist, in eigenständiger vernünftiger Analyse das Richtige zu erkennen. Deshalb ersetzt Habermas den kategorischen Imperativ durch eine neues Grundprinzip:

Handle nur nach einer Maxime, von der du, aufgrund realer Auseinandersetzung mit Betroffenen unterstellen kannst, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus der Handlung ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.

Reine Mehrheitsentscheidungen, durch Politiker in “Erfüllung des Wählerwillens” getroffene Entscheidungen wären demnach illegitim. Stattdessen müsste allen Entscheidungen ein echter Konsens der Beteiligten und Betroffenen zugrunde liegen. Gelänge kein Konsens, so wären nur faire Kompromisse erlaubt, in denen einige Beteiligte ihre Interessen in freier Entscheidung zum Wohl der Mehrheit zurückstellen.

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An dieser Stelle ist zu betonen, dass an der von Habermas aufgestellten Regel die Wörtchen real(er) und zwanglos von entscheidender Bedeutung sind. Sie weisen darauf hin, dass es essentiell ist, auf welchem Wege man zu einer Entscheidung kommt. So müssen alle von der Fragestellung Betroffenen beteiligt werden, ebenso sollte jeder seine Meinung frei äußern dürfen, vor allem aber ist ernst zu nehmen, dass jede Meinung gleich wichtig ist. Damit soll unter anderem die Macht der Experten gebrochen und der Einfluss der großen Interessensgruppen und Konzerne massiv eingeschränkt werden. Sie haben nun ebenfalls nur eine Stimme unter vielen und sind dazu verpflichtet, so zu reden, dass auch einfache Menschen ihre Theorien und Expertisen verstehen. Umgekehrt sind sie ihrerseits dazu aufgerufen, die Ängste der einfachen Menschen ernst zu nehmen.
Und die Rolle des Staates? Er ist Moderator, stellt sicher, dass die Bedingungen so sind, dass tatsächlich jeder die Chance hat, sich angemessen zu äußern und dass keine Art von Zwang ausgeübt wird. Die hier genannten Aspekte sind Teil der von Habermas propagierten Methode des herrschaftsfreien Diskurses, der in letzter Konsequenz durchgeführt, sogar mit ermüdender Genauigkeit formal festlegt, in welcher Reihenfolge, wie lange… jeder einzelne Teilnehmer am Diskurs reden darf.