Martin Luther – die zwei Reiche Lehre III

Deutschland, irgendwann zwischen dem Ende des 16. Jahrhunderts und dem Ende des Ersten Weltkriegs:

  • In der Dorfschule herrscht große Unruhe, der Pfarrer ist da, um die Schule im Auftrag des Landesfürsten zu visitieren. Die Kinder sind ängstlich, die Lehrer ebenso. Wird die Schule vor den kritischen Augen des Pfarrers Bestand haben, wird der Bericht des Pfarrers an den Fürsten positiv ausfallen?
  • Der Landesherr braucht frische Truppen, junge Männer müssen für den Militärdienst ausgehoben werden. Ein wichtiger Verbündeter dabei: Der Pfarrer vor Ort, führt er doch als Einziger ordentlich und genau Buch über Geburten und Taufen, weiß er also als Einziger sicher, wer wie alt ist…

Es ist eine enge und aus heutiger Sicht unheimliche Allianz, die da in der Folge der Reformation zwischen Pfarrern bzw. Kirche und Staat, entsteht. Sie ist, trotz der hohen Ideale Luthers – das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, der Christ als Bürger beider Reiche… – angelegt im Leben und Denken des Reformators. Sie nimmt ihren Anfang in einer Reihe von konkreten historischen Erfahrungen Luthers, die aber so viel Gewicht bekommen, dass sie letztendlich für die Realität in der lutherischen Kirche für lange Zeit bestimmender werden als die ursprünglichen Ideale.

1) Luther war nicht realitätsfremd, er wusste nur zu genau, was es bedeutete, von der katholischen Kirche mit dem Bann belegt zu werden. Er wusste sehr genau, wie es Jan Hus ergangen war, dem man, wie ihm auch, sicheres Geleit zugesichert hatte, den man im Glauben gelassen hatte, man werde sich ernsthaft mit seinen Gedanken auseinandersetzen… Für Luther ist es daher eine sehr prägende Erfahrung, zu erleben, dass deutsche Fürsten den evangelischen Glauben tatsächlich nicht nur unterstützten, sondern auch bereit waren, ihn gegen den mächtigen Kaiser und die katholische Kirche zu verteidigen. (Eine Erfahrung, die – siehe den dreißig-jährigen Krieg – auch die Generationen nach Luther machen).

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2) Unter den leibeigenen Bauern, Knechten und Bergknappen, allgemein beim “gemeinen Mann”, gährte es schon lange. Immer wieder hatte es lokal begrenzte Aufstände gegeben, die eine Reaktion auf die unerträglichen Zustände, die Ausbeutung, die soziale Not, die physische Not (Hunger…) waren. Luther wusste um diese unerträglichen Zustände, die im Bauernkrieg 1524/1525 mündeten. Er ermahnte die Fürsten in diesem Zusammenhang auch zum Frieden und erinnerte sie an ihre Pflichten als Christen und doch blieb er in seiner Haltung vage.
Luther war sehr wohl bewusst, dass auch er einen gewissen Anteil an den Aufständen hatte – er war es schließlich gewesen, der die Bibel ins Deutsche übersetzt und es damit möglich gemacht hatte, dass auch die einfachen Menschen diese lasen. Die Menschen hatten die Chance wahrgenommen und – die zahlreichen und intensiven sozialkritischen Stellen in der Bibel, in Gottes Wort entdeckt. Sehr schnell wurden die entscheidenden Fragen gestellt: Ist die bestehende Gesellschaftsordnung mit Gottes Wort vereinbar? Warum wird in einer sich christlich nennenden Gesellschaft nicht umgesetzt, was Gott doch fordert?
Auf diese Gedanken kamen die einfachen Menschen sicherlich nicht ganz von selbst, allein schon, weil sie Analphabethen waren. Aber es gab Vordenker, wie etwa Thomas Müntzer, ein Pfarrer, der Luther bewundert hatte und der sich dezidiert auf die Seite der Aufständischen stellte, ihnen Mut machte, ihnen zusprach, Gott auf ihrer Seite zu haben und der sie auch in einem weiteren Schluss unterstützte: Die – scheinbar christlichen – Reichen und Mächtigen handeln gegen Gottes Willen und es ist rechtens und mit Gottes Willen vereinbar, ihnen auch mit Gewalt zu nehmen, was sie den Armen verweigern.

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Für Luther war dieser Schluß nicht nachvollziehbar. Er sah es nicht als Recht der Kirche an, der Gesellschaft eine bestimmte Gesellschaftsordnung aufzuzwingen. Für ihn war das nicht mit der Zwei-Reiche-Lehre vereinbar. Und als es dann zur sog.  Weinsberger Bluttat kam, bezog er eindeutig Stellung: „[…] wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern […] man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss.“
Damit stellte er sich eindeutig auf die Seite der Fürsten und gegen – zumindest das aufständische – einfache Volk. Und, aus der Erfahrung, dass es gefährlich oder schwierig sein kann, einfache Menschen Gottes Wort interpretierten zu lassen, zog er noch einen weiteren Schluß, er begründete die Notwendigkeit des geistlichen Amtes, des Pfarrers und der Kirche neu: Sie ist dafür verantwortlich sicher zu stellen, dass die rechte (= richtige) Lehre verkündigt und die rechte Verwaltung der Sakramente stattfindet.

Beide Momente in der Geschichte der Reformation sind die Basis für die oben beschriebene Allianz zwischen Kirche und fürstlicher Obrigkeit und dem später entstehenden Bürgertum, die lange Zeit Bestand hatte und die auch mit einer teilweise deutlichen Distanz der Pfarrer, der Kirche, zu den einfachen Menschen, den Knechten, Mägden, Arbeitern, Bauern, Arbeitslosen… einher ging. Erst im 19. Jahrhundert überwanden Pfarrer wie Löhe, v. Bodelschwingh oder Wichern, die Distanz der evangelischen Kirche zu den einfachen Menschen, den unteren sozialen Schichten. Aber selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es eine Ausnahme, wenn ein evangelischer Pfarrer sich persönlich und politisch eindeutig auf die Seite der Arbeiter stellte, wie das z.B. K. Barth tat.