Immanuel Kant – der Mensch und der Tod

Im Jahr 1901 wog der Arzt Duncan MacDougall sechs sterbende Patienten. Er wollte beweisen, dass die Seele materiell und messbar sei und tatsächlich, er kam zu dem Ergebnis, dass die Gewichtsdifferenz zwischen lebenden und toten Patienten durchschnittlich 21 Gramm betrug. Zur Kontrolle vergiftete er fünfzehn Hunde. Da sie im Sterben nach seinen Messungen kein Gewicht verloren, nahm er an, dass Hunde keine Seele besäßen.

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Diese Geschichte hätte Immanuel Kant sicherlich gefallen. Sie ist ein gutes Lehrstück zur Veranschaulichung seiner Erkenntnislehre. Wir sehen, so Kant, nie das Ding an sich, d.h. das Ding in seinem objektiven Das ein, weder die Tasse vor uns, noch die Seele im Mitmenschen. Wir sehen, wenn, dann nur das, was uns unsere Sinne sehen lassen. Die Basis unserer Erkenntnisse sind somit subjektive Eindrücke. Oft genug aber begehen wir den Fehler, dass wir unsere Beobachtungen für objektiv halten und auf dieser Basis zu spekulieren beginnen (in der Terminologie Kants – wir arbeiten mit der spekulativen Vernunft).

Der Versuch von Duncan MacDougall, der es immerhin schaffte, seine Ergebnisse in der New York Times zu veröffentlichen, ist dafür ein gutes Beispiel: Der Arzt hatte tatsächlich einen Gewichtsverlust bei den Sterbenden gemessen, doch dann beging er einen entscheidenden Fehler. Er zog „vernünftige“ Schlüsse. Er deutete dieses mit den Sinnen zu beobachtende Phänomen – Gewichtsverlust – als Hinweis auf die Existenz der Seele. Auch dies wäre an sich sogar noch nicht legitim, immerhin kann man aus der Beobachtung von Ebbe und Flut auch auf die Existenz des Mondes schließen. Er vergaß aber dabei, genauestens zu prüfen, ob seine sinnlichen Beobachtungen nicht noch anders zu erklären wären, etwa durch Flüssigkeitsverlust…

Mit dem Verweis auf die Erkenntnistheorie ist eines schon angedeutet: Kant bestreitet im Gegensatz zur philosophischen Tradition vor ihm, dass es möglich sein könnte, die Existenz einer unsterblichen Seele oder natürlich auch Gottes zu beweisen. Derartige Versuche verweist er in den Bereich der Spekulation. Freilich, Kant ist auch kein Atheist. Im Gegenteil, so klar und deutlich, wie er bestreitet, dass man die Existenz Gottes beweisen könne, so klar und deutlich stellt er fest, dass es ein Postulat (eine Forderung, ein Axiom) der Vernunft sei, anzunehmen, dass eine unsterbliche Seele und auch Gott existiere.

Ausgangspunkt von Kants Gedankengang, der zu diesen Postulaten führt, ist die Annahme, dass der Besitz der Vernunft den Menschen wesentlich zum Menschen macht, dass diese Gabe nicht zufällig Teil unseres Wesens ist, sondern ihren Sinn hat, so wie auch die mächtigen Pranken des Löwen ihren Sinn haben. Mit Hilfe seiner Vernunft – vorausgesetzt er setzt sie ein – kann der Mensch erkennen, dass die Umsetzung des kategorischen Imperativs – das moralische Gesetz – das höchste anzustrebende Gut ist. Denn, würden alle so handeln, dass die Maxime ihres Handelns als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnten, dann würde diese Welt eine Welt sein, in der absoluter Frieden herrscht, in der es absolut gerecht zugeht… Das höchste Glück wäre erreicht, nicht nur für den Einzelnen, sondern für die ganze Menschheit.

Nur, die alltägliche Erfahrung lehrt, dass viele Menschen ihre (praktische) Vernunft nicht im eigentlichen, richtigen Sinne für das höchste Gut einsetzen. Und so würde, unter der Voraussetzung, dass wir alle nur dieses eine Leben haben und danach nichts mehr kommt, gelten:

Der, der aufgrund von egoistischem Handeln, der Ausnutzung der Schwächeren etc., sein Leben in Saus und Braus führt, hat, wenn er stirbt, ein glückliches Leben gehabt, während

der, der zum Beispiel nie lügt, weil er ganz nach dem kategorischen Imperativ davon ausgeht, dass niemand angelogen werden möchte und man deshalb selbst auch nicht lügen sollte, sein Leben lang immer wieder über den Tisch gezogen, ausgenutzt wird. Er hätte, wenn er stirbt, zwar vielleicht ein moralisch korrektes, aber kein glückliches Leben geführt.

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Angesichts dieser beiden Alternativen gibt es nur zwei logische Antworten:

  • Wenn es dem besser geht, der auf seinen Vorteil schaut, der sich nicht für Moral und Gerechtigkeit interessiert,
    wenn der in unserer Welt an Lebensqualität und Lebensglück verliert, der versucht, sich immer moralisch absolut richtig, vernünftig zu verhalten,
    dann ergibt sich unter der Voraussetzung, dass wir nur dieses eine Leben haben und dem Tode keines folgt, logisch zwingend der Schluss:
    Es ist völlig unsinnig sich moralisch verhalten zu wollen. Achte lieber darauf, dass Du hier und jetzt mit allen Mitteln ein gutes Leben führst und nutze die Vernunft dazu zu verhindern, dass Dich jemand ins Gefängnis steckt…

Diese Lösung ist aus der Sicht Kants durchaus logisch – wirft aber eine Frage auf: Warum sind wir alle fähig mit unserem Verstand zu erkennen, dass wir wenn wir uns an den kategorischen Imperativ halten würden, eine gerechte und gute Welt schaffen könnten?
Oder, um es anders auszudrücken: Lösung 1 ist logisch unter der Voraussetzung, dass wir alle Tiere wären, die aufgrund ihrer rein sinnlichen Natur ihr Glück auch ausschließlich in der Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse finden.

Wir aber sind Menschen und sind dies gerade dadurch, dass wir unseren Verstand besitzen, der uns Möglichkeiten aufzeigt, eine für alle gute und gerechte Welt zu schaffen.
Aus diesem Grund, weil wir eben vernunftbegabte Wesen und keine Tiere sind, weil wir uns mit Hilfe der Vernunft frei gegen unsere Triebe und das rein sinnliche Glück entscheiden können und alle diese besonderen Möglichkeiten des Menschseins einen echten Sinn haben müssen, ergibt sich eine weitere Lösung:

  • Es muss eine Instanz geben,
    die garantiert, dass wir, wenn wir unsere Lebensaufgabe als Menschen vollendet und das heißt nach dem moralischen Gesetz gelebt haben, Glück erleben können – im Leben nach dem Tod: Gott und in uns eine unsterbliche Seele, die dieses Glück erleben kann.
    Nachtrag 1: Damit ist natürlich auch gemeint, dass der, der im irdischen Leben nicht versucht nach dem moralischen Gesetz zu leben, sondern stattdessen irdischen sinnlichen Vergnügungen nachgeht, von eben diesem Gott nach dem Tode im ewigen Leben bestraft wird.
    Nachtrag 2: Kant lässt es offen, wie man sich dieses Glück vorstellen soll, das den vorbildlichen Menschen nach dem Tod erwartet, nur eines kann als sicher gelten: Es ist nicht irdisch-sinnlicher, triebhafter Natur (Essen, Liebe…)

Klassische Theorien angewandt I

Eine fiktive Situation:

Ein Boot voller Flüchtlinge aus einem Bürgerkriegsgebiet in Afrika wird vor der Küste Siziliens von der italienischen Marine aufgebracht. Die Italiener drängen auf Weisung ihrer Regierung das Boot ab und sorgen dafür, dass es zurück, Richtung Afrika fährt (Dort kommt das Boot allerdings nie an). In einer Pressemitteilung zu diesem Vorfall heißt es: Angesichts überfüllter Flüchtlingslager auf italienischem Boden und angesichts der Weigerung der restlichen europäischen Staaten, insbesondere der reichen Nationen, wie Deutschland, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, sieht sich Italien dazu gezwungen, die Grenzen zu schließen. Flüchtlinge, die versuchen über den Seeweg nach Italien zu kommen, werden wieder zurückgeschickt. Die Verantwortung für das Schicksal der Flüchtlinge, für die Vielzahl derer, die auf offener See ertrinken, liegt bei ganz Europa und nicht allein bei Italien. Insofern ist die Weigerung Deutschlands und anderer europäischer Staaten, unter Verweis auf die sog. Drittstaatenregelung, Flüchtlingen aufzunehmen, auch die Entscheidung, sie auf dem Meer sterben zu lassen.

Abandoned belongings and life jackets on the shore

Abandoned belongings and life jackets on the shore

 

Eine erste Antwort:

Am einfachsten scheint die Bewertung dieser Situation aus der Sicht des Utilitarismus zu sein: Das Glück vieler Millionen Europäer steht dem Glück der wenigen Bootsflüchtlinge entgegen und damit ist nach der greatest happiness Faustformel klar: Die Flüchtlinge haben Pech gehabt, es ist legitim, sie zurückzuschicken, sie müssen auf ihren Traum, Anteil am Wohlstand Europas zu haben, verzichten, weil durch ihre Anwesenheit das Glück Europas, der hart erarbeitete Wohlstand, in Gefahr ist.

Diese Art der Argumentation, die sich immer wieder und nicht selten findet, ist allerdings einerseits überhaupt nicht im Sinne des Utilitarismus und andererseits rassistisch. Schon letzteres aber ist mit dem Utilitarismus nicht vereinbar, der immer das Wohl aller Beteiligten im Blick hat. Und überhaupt: Worin besteht denn hier das Glück? Um wieviel wird denn das Glück von uns Europäern tatsächlich geringer, dadurch dass wir Flüchtlinge aufnehmen? Der Unterschied, er mag von Person zu Person und Situation zu Sitiuation differieren, wird in der Summe äußerst gering, bzw. kaum spürbar sein. Dagegen aber steht auf der Seite der Flüchtlinge kaum messbares, aber unendliches Leid – der qualvolle Tod durch Ertrinken, die Trauer der Angehörigen und – selbst wenn sie überleben, der Hunger, die Kriege, die sie erwarten und aus denen sie kommen. Damit ist es nach dem Nutzen- und dem hedonistischen Prinzip aus der Sicht des Utilitarismus eigentlich unmöglich, die Flüchtlingen zurückzuschicken, sie dem sicheren Tod oder dem Leid in Afrika zu überlassen. Zumal auch zwei weitere Prinzipien des Utilitarismus verletzt sind: Diese Handlung ist a) nicht rein, im Sinne von: wir könnten den Angehörigen der Flüchtlinge mit Sicherheit nicht mit gutem Gewissen in die Augen schauen und sie ist b) auch nicht sicher, denn das beabsichtigte Ziel, durch derartige Maßnahmen abzuschrecken und zu verhindern, dass weitere Flüchtlinge sich auf den Weg nach Europa machen, wird m. E. ebenfalls nicht erreicht.

Damit ist eines klar: Die Flüchtlinge sollten aus der Sicht einer utilitaristischen Argumentation natürlich aufgenommen werden und wenn hier jemand im Sinne der greates happiness Formel Nachteile in Kauf nehmen muss, dann sind das jene, die sich durch ein Flüchtlingswohnheim in der Nachbarschaft gestört fühlen…

Flüchtlinge

Die zweite Anwort:

Versetzt man sich in die Situation der Flüchtlinge, die hilflos auf dem Meer treiben, die aus einer Heimat kommen, in der es nachweislich (empirisch überprüfbar) zahllose lebensbedrohliche Gefahren gibt (Hunger, Bürgerkriege…), so ist klar: Keiner von uns würde es in solch einer Situation wollen, so zu behandelt werden, wie es die italienische Marine mit den Flüchtlingen tat. Der Vorfall wäre aus der Perspektive einer rationalistischen Ethik unter Verweis auf den kategorischen Imperativ somit scharf zu verurteilen.

Dies gilt umso mehr, als die Motive der handelnden Personen unlauter sind, denn erstens hat nach den Grundsätzen der Pflichtethik jeder Mensch einen Zweck an sich, darf also nicht zum Mittel zum Zweck werden, wie das hier geschieht, wenn die italienischen Institutionen die Situation nutzen, um Politik zu machen. Darüberhinaus dürfen zweitens auch Gefühle und Ängste in unserer Argumentation und bei unserer Entscheidung keine Rolle spielen. Und so gilt: Solange es keinen vernünftigen Grund gibt zu behaupten, die Flüchtlinge würden unser Glück gefährden, solange es vor allem keinen vernünftigen Grund gibt zu sagen, dass der Verlust an Glück bei uns so groß ist, dass es vernünftig ist, friedfertige, schutzbedürftige und vernünftige Menschen in eine Heimat zu schicken, in der es nachweislich Krieg, Hunger… gibt, solange ist es ein Gebot der Pflicht für uns Flüchtlinge aufzunehmen.

 

Pflichtethik

 

Rettungsdienst

Sie sind Notarzt und treffen als Erster bei einem Verkehrsunfall auf einer Bundesstrasse ein (gehen Sie bitte für das Folgende davon aus, dass so schnell keine weitere Unterstützung eintreffen wird). Sie verschaffen sich rasch einen Überblick über die Lage und kommen zu der Erkenntnis, dass die Fahrerin eines PKW´s in womöglich selbstmörderischer Absicht, jedenfalls scheinbar grundlos, die Spur gewechselt hat und frontal in ein entgegenkommendes Auto gerast ist. Es gibt zwei Schwerverletzte, die Frau und den Fahrer des anderen Autos. In Bruchteilen von Sekunden erkennen Sie, dass beide Ihnen bekannt sind:
Der Fahrer des einen Autos ist ein 47 jähriger Unternehmer, ein wichtiger Arbeitgeber in der Region und Vater von drei schulpflichtigen Kindern.
Mit der Frau hatten Sie vor etwa einem Jahr eine Affäre – für Sie selbst war die Beziehung “nichts ernstes”. Sie wissen aber, dass die Frau sehr verletzt war, sich von Ihnen ausgenutzt fühlte und in ihrer Verzweiflung auch schon Selbstmordabsichten äußerte.

Die beiden Unfallopfer haben lebensgefährliche Verletzungen und liegen im Sterben. Sie können aller Wahrscheinlichkeit nach nur einen der beiden Patienten retten. Wie entscheiden Sie sich?

Kant

Immanuel Kant (1724-1804)

Folgt man an dieser Stelle der Pflichtethik, wie sie etwa von Immanuel Kant vertreten wurde, so wäre es falsch,
– aufgrund von Gefühlen (z.B. einem schlechten Gewissen) zu entscheiden;
– aufgrund von Konventionen oder Traditionen zu handeln (z.B. Frauen und Kinder zuerst…)
– aufgrund von Spekulationen oder Phantasien zu entscheiden (z.B. die Frau wollte Selbstmord begehen – dies ist eine Theorie des
Arztes, die nicht bewiesen ist).

Doch selbst wenn man sicher wüsste, dass die Frau die Absicht hatte, Selbstmord zu begehen, wäre dies kein Grund, sie jetzt sterben zu lassen, denn jeder Mensch hat einen Zweck an sich (modern: jedes menschliche Leben hat einen Sinn und Wert).  Die Frau sieht diesen nur im Moment nicht oder weiß ihn nicht zu schätzen, aber er ist gegeben.

Gefordert wäre stattdessen eine vernünftige Begründung des eigenen Tuns (Kant fordert dies grundsätzlich und in jeder Situation, selbst in kritischen Situationen wie der hier vorgegebenen), also ein Handeln nach Regeln, die dem kategorischen Imperativ folgen. Die Frage lautet somit: Was wäre in diesem Fall für alle gut bzw. vernünftig?
Auch hier zuerst einige Handlungsmuster  bzw. -begründungen, die diese Regel nicht erfüllen:
– Der Arzt handelt gar nicht – wir können aber nicht wollen, dass ein Arzt in einer Dillemmasituation gar nicht helfend aktiv wird.
– Der Arzt rechnet nach halbutilitaristischem Muster, also alleinstehende Frau gegen Vater von drei Kindern; aber nochmals: Jedes Leben
hat seinen Zweck an sich und darf nicht gegen ein anderes Leben aufgerechnet werden (wir wollen auch als Personen wahrgenommen
werden und nicht als “Humankapital” etc…).
– Der Arzt rettet den Mann aufgrund seiner gesellschaftlichen Bedeutung als Arbeitgeber… Sein Maßstab wäre also der Nutzen der
jeweiligen Person. Nur, würden wir wollen, dass immer zuerst die gerettet werden, die in der Gesellschaft einen höheren Status haben?
Wollen wir auf unseren Nutzen für die Gesellschaft reduziert werden?

Bis zu diesem Punkt wurden ausschließlich Negationen formuliert, übliche und klassische Begründungen für Entscheidungen als nicht der Pflichtethik und damit dem kategorischen Imperativ und den Forderungen der Vernunft entsprechend deklariert. Um es noch radikaler zu formulieren: Wer nach einem der oben genannten Kriterien entscheidet, handelt nach Kant nicht frei. Das mag bei dem hier zugrundegelegten Beispiel nicht schlimm sein, denn immerhin kommt man auf diese Art und Weise in kürzester Zeit zu einer Entscheidung, die auch von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen von der Gesellschaft akzeptiert werden kann. Grundsätzlich aber gilt, dass eine so begründete Handlung ethisch nicht rein ist, denn sie erfüllt ein Kriterium nicht, dass wir alle für gut befinden und von dem wir erwarten, dass es gerade auch ein Arzt erfüllt. Dieses Kriterium, das auch die Forderung des kategorischen Imperativs erfüllen würde, wäre:

Der Arzt entscheidet rein nach medizinischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten, ohne Ansehen der zu behandelnden Person.

Hippokratischer Eid

(der hippokratische Eid in griechischer Fassung)
(Quelle: www.aerzteblatt.de)