Rawls – Gerechtigkeit als Fairness

Angenommen, der Schleier des Nichtwissens würde sich über uns senken und jeder von uns hätte auf einmal vergessen, woher er kommt, welchen sozialen Status er hatte, in welcher Gesellschaftsform er lebte, ob er reich war oder arm, was ihm gehörte und was nicht … Angenommen, dieser Schleier des Nichtwissens würde uns so tief erfassen, dass wir auch alte Prägungen und Vorurteile vergäßen, etwa über Sinti und Roma, angenommen wir wären somit völlig frei, noch einmal völlig neu mit dieser unserer Welt anzufangen, welches Gesellschaftsmodell würden wir dann wählen, welche Rechte, welche Pflichten würden wir uns dann geben?

Diese Frage ist, wenn auch anders formuliert, in der Geschichte schon oft gestellt und in philosophischen Theorien, Romanen oder Filmen beantwortet worden. Dem Roman “Herr der Fliegen” von W. Golding etwa liegt ein ähnliches Paradigma zugrunde: Jungen, völlig abgeschnitten von den Erwachsenen und der Zivilisation gründen auf einer Insel eine neue Form der Gesellschaft. In Thomas Morus Werk Utopia wiederum schaffen Menschen künstlich eine Insel, um schädliche Einflüsse von außen fern zu halten und auf der Insel die ideale Gesellschaft zu gründen. Eine Gesellschaft, die ihrerseits ihr Vorbild unter anderem bei Plato findet.

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“Utopia”

Die Frage ist immer wieder – wie sollte es anders zu erwarten sein – unterschiedlich beantwortet worden und man kann sich im Prinzip schon denken, in welche Richtungen es je grob ging:

Die neue Gesellschaft ist nach dem Prinzip “Der Stärkere setzt sich durch” oder in der modernsten Variante: “Die Gene setzen sich durch” konstruiert.
Die neue Gesellschaft folgt dem utilitaristischen Prinzip, nach dem die Mehrheit entscheidet oder
Die neue Gesellschaft ist nach den Regeln der Vernunft durchkonstruiert.

Stellt man sich die Frage selbst, so wird schnell klar, die Beantwortung hängt stark vom eigenen Menschenbild ab. Welches Verhalten erwarte ich in dieser Situation von mir und den anderen? Glaube ich an das Gute im Menschen oder nicht?

J. Rawls trifft an dieser Stelle eine Entscheidung. Er versteht den Menschen in der Tradition Kants als vernünftiges Wesen. Als solches wird es in einer Situation, in der der Schleier des Nichtwissens alles gelöscht hat, was uns mit der Vergangenheit verbindet, eine Gesellschaftsform wählen, die durch einen von allen getragenen Vertrag entsteht. Zwei Fixpunkte gibt es an dieser Stelle: Alle und wirklich alle sollen einbezogen werden (dies richtet sich klar gegen den Utilitarismus, der nur an die Mehrheit denkt) und alle müssen frei zustimmen können und aus freier Entscheidung auf bestimmte Rechte verzichten.

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Das tragende Prinzip dieses so entstehenden idealen Staates ist “Gerechtigkeit als Fairness”, eine Leitidee, die Rawls als Weiterentwicklung des Kantschen kategorischen Imperativ versteht. Ziel ist es somit, in einer Gesellschaft Strukturen zu schaffen, die Gerechtigkeit ermöglichen. Dabei geht es nicht darum, alle gleich zu machen, gerecht ist eine Gesellschaft vielmehr, wenn jeder umfassende persönliche und politische Rechte hat (auf freie Meinungsäußerung, persönliches Eigentum …) und dieselben Chancen auf Bildung und Arbeit. Fair ist es eine Gesellschaft, wenn jeder nicht nur den gleichen Zugang und Anteil an den Gütern hat, sondern auch nach seiner Leistungsfähigkeit an den Lasten der Gesellschaft beteiligt wird, denn diese braucht natürlich bestimmte Strukturen, um z.B. allen den Zugang zu Bildung oder zu öffentlichen Ämtern zu ermöglichen. Grundsätzlich aber gilt: Möglichst viel Freiheit und möglichst wenig Pflichten und Einschränkungen (solche sind natürlich unter anderem dann nötig, wenn die freie Entfaltung Einzelner durch das Tun anderer gefährdet wird).

Rawls ist sich natürlich bewusst, dass die Wirklichkeit anders aussieht. Kein Staat der Gegenwart ist aufgrund eines Gesellschaftsvertrages entstanden, es existieren im Gegenteil viele verschiedene Staats- und Gesellschaftsformen und diese wiederum sind geprägt durch überkommene soziale Strukturen… Doch es muss aus Gründen der Vernunft unser Ziel sein, dass

1) jeder das gleiche Recht auf Grundfreiheiten hat;
2) bestehende soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so gestaltet werden, dass gerade die, die am meisten benachteiligt sind, die größtmöglichen Vorteile aus der Gesellschaft ziehen können und Chancen bekommen, die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit mitzugestalten.