Arthur Schopenhauer – Der Mensch und der Tod II

Der Wille hat unterschiedliche Formen – Schopenhauer entwickelt hier ein eigenes System, das auch die Sonderstellung des Menschen in dieser Welt begründet. Er ist in seiner primitiven Form in der im vorherigen Eintrag beschriebenen Familienszene am einfachsten zu finden: Der Drang, den Pflanzen, Tiere und Menschen gemeinsam haben, zu leben, koste es, was es wolle. Dieser Wille treibt Pflanzensamen dazu, zu keimen, sich selbst durch Asphalt hindurch zu bohren, der Sonne entgegen. Dieser Wille treibt große Stücke Fleisch und Pommes in große Jungs wie Max hinein…

 

white flower growing on crack street, soft focus.

Allerdings, Max mit einer Pflanze oder einem Tier zu vergleichen, ist zwar legitim, weil der Wille zum Leben uns mit allen Lebewesen verbindet, aber natürlich ist der Mensch nach Schopenhauer mehr. In ihm manifestieren sich auch andere Formen des Willens, die er nur noch teils oder bedingt mit den anderen Lebewesen gemeinsam hat. Dazu gehört z.B. jene Form des Willens, die uns die Nähe anderer Menschen suchen lässt, sie ist eine weitere, aber viel komplexere Form des Willens zum Leben. Wir spüren diese Form, leben sie und entwickeln zu ihr aufgrund unserer Empfindungen unterschiedliche Vorstellungen, die dann schnell den Boden des Objektiven verlassen können. Zu diesen Vorstellungen zählen im gewählten Beispiel etwa die Idee der Familie als harmonische Gemeinschaft oder die Vorstellung der Tochter, durch Diät und ständige Präsenz in den Social Media soziale Akzeptanz zu gewinnen.

So ist der Mensch nach Schopenhauer aufgrund dieser unterschiedlichen Manifestationen des Willens ein komplexes Wesen, vor allem aber ein leidendes Wesen, denn oft genug geraten diese unterschiedlichen Formen des Willens in uns untereinander in Konflikt, verhindern insbesondere niedere Formen, dass sich höhere entfalten können. Damit ist auch erklärt, warum der Mensch im Laufe seiner Entwicklung einen Verstand entwickelte: Dieser ist nicht der Ort, wo Willen entsteht (so lehrt es die philosophische Tradition), er ist der Ort, wo der Mensch versucht, den Willen zu verstehen und noch mehr, die in ihm widerstreitenden Formen des Willens zu kontrollieren. Doch mit der Entwicklung des Verstandes, mit der Tatsache, dass der Mensch sich seiner selbst bewusst wird, ist auch ein Nebeneffekt verbunden: Der Mensch kann erkennen, dass sein Sein an sich Leiden ist, denn die Erfüllung des Willens führt nicht zu dauerhaftem Glück. Im Gegenteil, wir haben immer wieder Hunger, wir müssen uns immer wieder der Tatsache versichern, dass wir sozial akzeptiert sind… Unser Leben ist das eines Hamsters, der in seinem Rad läuft und läuft…

Two Indian tibetan old monks lama in red color clothing sitting in front of mountains

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Doch, wenn das Leben nur Leiden ist, weil wir

einerseits dank unseres Verstandes erkennen, dass unser Dasein als Individuum, unsere Vorstellungen, nur endlich sind und weil wir

andererseits wissen, dass wir nie dauerhaft Frieden finden werden, weil der Wille sich immer wieder regt, immer neue Bedürfnisse entwickelt, die sich dann, als wäre Ersteres nicht schlimm genug, auch noch widersprechen,

warum bringen wir uns dann nicht am besten um?

Die Antwort auf diese Frage ist nach Schopenhauer einfach: Weil es nicht in unserer Natur liegt oder genauer, weil der Wille zum Leben noch eine Kehrseite hat: Die Angst vor dem Tod. Letztere ist unser ständiger Begleiter. Doch der Mensch wäre nur ein Tier und kein Mensch, wenn er nicht auch ein Mittel gegen die Todesfurcht hätte: Den Verstand. Mit diesem kann er in der Religion und in der Philosophie Argumente! nicht nur Vorstellungen gegen die Angst vor dem Tod finden.

Und so prüft Schopenhauer die ihm bekannten Religionen und kommt zu dem Schluss, dass Christentum, Judentum und Islam keine Argumente gegen die Angst liefern, denn sie halten bekanntermaßen an einer unlogischen Vorstellung fest, indem sie lehren, dass das Individuum von Gott aus dem Nichts heraus erschaffen wurde und nach seinem irdischen Leben als Individuum ewig weiterlebe. Echte Argumente gegen die Angst findet Schopenhauer dagegen im Hinduismus und Buddhismus, in den Vorstellungen vom ewigen Kreislauf der Wiedergeburten, dieser Welt als Täuschung und der Auflösung des Ichs mit dem Tod.

Buddhismus und Hinduismus haben dann auch noch einen praktischen Rat für das Leben, den Schopenhauer teilt: Löse Dich von Deinem irdischen Dasein, von Deinen irdischen Bedürfnissen. Askese ist der Weg, mit diesem Leben, dem Leid, das das Leben bedeutet, zurecht zu kommen. Willenlosigkeit. Konkret – so versteht Schopenhauer das: Der Mensch ist dank seines Verstandes fähig seinen Willen zu steuern und er sollte ihn befreien von der Fixierung auf das Konkrete, das Essen, die soziale Anerkennung… Wer das einübt, der wird den Tod nicht mehr fürchten, denn dieser ist nur das Eingehen in die große Einheit des Seins.

Wer diese Einheit mit dem Sein im Übrigen schon zu Lebzeiten erleben möchte, der sei auf jene Erfahrungen verwiesen, die wir bei Konzertbesuchen machen können – wir leben in und mit der Musik; Zeit und Raum gehen verloren; wir werden getragen von der Musik… Alternativ, in modernen Begriffen: Wer die Einheit mit dem Sein erleben möchte, der suche Flow-Erlebnisse…

Arthur Schopenhauer – Der Mensch und der Tod I

Ein ganz normaler Sonntag. Mittagessen bei Hubers. Frau Huber, die seit über einer Stunde in der Küche stand, ruft die Familie zusammen. Es gibt Steaks, verschiedene Gemüsesorten auf den Punkt gegart und selbst gemachte Pommes. Ihre Familie pünktlich am Tisch erwartend, bereitet Frau Huber die Teller vor und richtet das Essen an. Alles sieht aus ihrer Sicht sehr ästhetisch aus. Neben einem Stück Kräuterbutter drapiert sie auf dem Steak die essbare Blüte der Kapuzinerkresse. Herr Huber erscheint, nimmt Platz. Er freut sich sichtlich auf das leckere Essen. Doch die Kinder lassen auf sich warten. Es dauert fast fünf Minuten, bis Max, der 16 jährige Sohn erscheint. Verstrubbelt, scheinbar ungewaschen, so als wäre er gerade aufgestanden und direkt zum Mittagstisch gegangen. Er setzt sich ohne ein Wort zu sagen. Kurz danach kommt auch seine Schwester, Lilly, angeschlichen, den Blick kaum vom Handy lösend, nimmt sie Platz.

 

Grilled beef steak served with French fries and vegetables on a black plate.

Grilled beef steak served with French fries and vegetables on a black plate.

Schön, sagt Herr Huber, genervt, weil das Essen schon längst nicht mehr warm ist, dann können wir ja anfangen: „Einen guten Appetit“. Nur die Mutter antwortet. Lilly legt immerhin ihr Handy beiseite. Max wiederum schiebt mit halb irritiertem, halb angewidertem Blick die Blüte auf seinem Steak beiseite und beginnt schnell und in großen Bissen das Steak und die Pommes zu verschlingen. Seine Schwester stochert dagegen gelangweilt im Essen herum, pickt hier und da ein Stück Gemüse heraus und knabbert daran. Immer wieder schielt sie dabei auf das neben ihr liegende Handy.

Die Fortsetzung dieser Szene kann sich jeder selbst denken. Sie eignet sich gut für eine bildhafte Umsetzung von Schopenhauers These „Diese Welt ist Leiden“. Zwei Ebenen treffen in dieser Geschichte zumindest aufeinander. Da ist zum einen die Mutter, sie hat eine Vorstellung, eine subjektive Deutung der Wirklichkeit, die sie freilich mit einer objektiven Tatsache verwechselt: Wir sind eine Familie, wir mögen, wir achten, wir lieben einander und in diesem Sinne, in vertrauter Harmonie, genießen wir gemeinsam den Sonntag mit einem schönen Essen und führen im Idealfall dabei gar noch anregende Gespräche.

Doch es geht hier nicht nur um einzelne Vorstellungen, sondern um das Ganze. Wir alle, nicht nur Frau Huber, nicht nur Lilly, der Erwachsene gerne vorwerfen würden, in einer virtuellen Welt zu leben, nein, wir alle leben in unserer je eigenen subjektiven Welt der Vorstellungen. Dabei bestreitet Schopenhauer keineswegs die Existenz des Objektiven, nur, da wir die Welt als Individuum wahrnehmen, da wir immer nur Empfindungen (akustische, optische… Signale) mit unserem Verstand verarbeiten, sehen wir die Welt, die Wirklichkeit nur subjektiv. Im Normalfall leben wir somit in einer Welt der Vorstellungen und die Gefahr ist groß, dass wir uns in diesen Vorstellungen verlieren, dass wir den Kontakt und den Bezug zum wahren Sein verlieren. Momente, wie der eingangs beschriebene, sind allerdings geeignet, um uns dies vor Augen zu führen: Das, was wir glauben, das ist, ist oft nur unsere subjektive Einbildung. Allein dies immer wieder erkennen zu müssen, zu sehen, dass meine Vorstellungen, wie Seifenblasen zerplatzen, weil sie nicht objektiv sind und daher keinen Bestand haben, ist ein Grund zu sagen: Diese Welt ist Leiden.

 

Arthur Schopenhauer

Um unser bisher beschriebenes Dasein zu veranschaulichen und um es im Sinne Schopenhauers richtig einordnen zu können, stellen Sie sich bitte einen großen, unendlichen Lavastrom vor, in dem es brodelt. Aus ihm fliegen immer wieder Lavabrocken heraus. Frau Huber, jeder Mensch, ist so ein Lavabrocken. Durch die Luft fliegend erlebt er sich als Individuum und er entwickelt Vorstellungen – auch die, dass sein Flug durch die Luft, dass sein Dasein als Individuum ewig dauern könnte… Doch der Lavabrocken fällt unweigerlich wieder herunter, er landet im Lavastrom, löst sich darin auf.

Damit ist schon angedeutet, dass es nach Schopenhauer tatsächlich ein Leben nach dem Tod gibt. Doch zuerst müssen wir kurz zurück zur Eingangsszene und der zweiten Ebene dieser Geschichte, denn es gibt, so konstatiert er, in uns eine Kraft, die objektiv ist, die uns mit dem großen, ewigen, uns umgebenden Sein verbindet: Der Wille.