Wann beginnt menschliches Leben? Teil IV – wenn unser Gehirn funktioniert

Seit Jahrzehnten streitet sich die deutsche Gesellschaft über den Beginn des menschlichen Lebens. Es ist ein Streit, der manchmal schwelt, manchmal heftig ausbricht – man denke nur an jene Zeiten, als die Zeitschrift “Stern” titelte “Wir haben abgetrieben!” (6.6.1971) und der Streit um Paragraph 218 Strafgesetzbuch seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Heftig gestritten, wenngleich mit deutlich weniger öffentlicher Leidenschaft, wurde in der Gegenwart unter anderem um die Forschung an Embryonen. In all diesen Fällen wurden mit der Zeit Lösungen gefunden, gesetzliche Regelungen geschaffen, die der Mehrheitsmeinung zu entsprechen scheinen, nur eines gab es nicht: einen gesellschaftlichen Konsens. Und so stehen in der Gegenwart immer wieder Befürworter der Pille, der Abtreibung, der Embryonenforschung entsprechenden Gegnern gegenüber und dabei gilt dann auch noch, dass es längst nicht gesagt ist, dass der, der etwa eine Abtreibung für vertretbar hält, die Forschung an Embryonen befürwortet.

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(Abtreibungsgegner in München, 10.5.2014
Quelle: ETIENjones / Shutterstock.com)

In dieser festgefahrenen Situation, in der es fast ausgeschlossen zu sein scheint, dass eine Definition zum Beginn des menschlichen Lebens breite Zustimmung findet und damit konsensfähig ist, tut es gut, einmal in eine andere Richtung zu schauen: Ans Ende des menschlichen Lebens. Und das erstaunliche ist: Hier hat die deutsche Gesellschaft zu einem Konsens gefunden, hier gibt es keine sich teilweise widersprechenden Regelungen, wie es sie in den den Anfang des Lebens betreffenden Gesetzen gibt (Abtreibung ist erlaubt – Forschung an Embryonen nicht). Hier ist klar: Ein Mensch ist tot, wenn der Hirntod eingetreten ist, wenn sichergestellt ist, dass nicht nur Teile des Gehirns, sondern Großhirn und Hirnstamm so irreversibel geschädigt sind, dass sie nicht mehr funktionieren.

Diese Beobachtung ist die Basis der Position, die Hans-Martin Sass, Vertreter der Differenzialethik, die sich um weltanschauliche Offenheit, Orientierung an der Person und Situation ebenso bemüht, wie um den gesellschaftlichen Konsens in der Entscheidungsfindung, einnimmt: Wenn es doch konsensfähig ist, dass das menschliche Leben in dem Moment endet, in dem das Hirn aufhört zu funktionieren, warum soll man dann nicht annehmen, dass menschliches Leben dann beginnt, wenn das Gehirn anfängt zu funktionieren?

Bliebe nur noch die Frage, wann genau man davon ausgehen kann, dass das Gehirn als solches Funktionstüchtigkeit erlangt hat. Und auch hier lohnt sich ein Rückblick auf die Diskussionen und Gedanken, die zu der in Deutschland gültigen Hirntodregelung geführt haben: Es darf kein Zweifel bestehen, dass das Gehirn sich nicht doch noch erholt oder dass Teile desselben eigenständig funktionieren. Der kleinste Hinweis darauf, dass der Patient zum Beispiel das Locked-in-Syndrom haben könnte, verhindert somit, dass der Betreffende für Tod erklärt wird.

Überträgt man dies auf die Frage nach dem Anfang des Lebens, folgt daraus, dass eine Definition eigentlich dann konsensfähig sein müsste, wenn sie festlegt, dass menschliches Leben in dem Moment beginnt, in dem das Gehirn anfängt funktionsfähig zu werden, konkret etwa am siebzigsten Tag nach der Empfängnis. Nachweisbar sind dann im Kortex Synapsen, die die isolierten Neuronen vernetzen, Neuronenansammlungen und erste Tendenzen zu einer Teilung des Hirns. Ab diesem Zeitpunkt könnte der Embryo z.B. schon licht- und schmerzempfindlich sein und damit würde für ihn das gelten, was auch für einen Menschen mit dem apallischen Syndrom gilt: Niemand würde ihm das Leben nehmen…

 

Immanuel Kant – der Mensch und der Tod

Im Jahr 1901 wog der Arzt Duncan MacDougall sechs sterbende Patienten. Er wollte beweisen, dass die Seele materiell und messbar sei und tatsächlich, er kam zu dem Ergebnis, dass die Gewichtsdifferenz zwischen lebenden und toten Patienten durchschnittlich 21 Gramm betrug. Zur Kontrolle vergiftete er fünfzehn Hunde. Da sie im Sterben nach seinen Messungen kein Gewicht verloren, nahm er an, dass Hunde keine Seele besäßen.

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Diese Geschichte hätte Immanuel Kant sicherlich gefallen. Sie ist ein gutes Lehrstück zur Veranschaulichung seiner Erkenntnislehre. Wir sehen, so Kant, nie das Ding an sich, d.h. das Ding in seinem objektiven Das ein, weder die Tasse vor uns, noch die Seele im Mitmenschen. Wir sehen, wenn, dann nur das, was uns unsere Sinne sehen lassen. Die Basis unserer Erkenntnisse sind somit subjektive Eindrücke. Oft genug aber begehen wir den Fehler, dass wir unsere Beobachtungen für objektiv halten und auf dieser Basis zu spekulieren beginnen (in der Terminologie Kants – wir arbeiten mit der spekulativen Vernunft).

Der Versuch von Duncan MacDougall, der es immerhin schaffte, seine Ergebnisse in der New York Times zu veröffentlichen, ist dafür ein gutes Beispiel: Der Arzt hatte tatsächlich einen Gewichtsverlust bei den Sterbenden gemessen, doch dann beging er einen entscheidenden Fehler. Er zog „vernünftige“ Schlüsse. Er deutete dieses mit den Sinnen zu beobachtende Phänomen – Gewichtsverlust – als Hinweis auf die Existenz der Seele. Auch dies wäre an sich sogar noch nicht legitim, immerhin kann man aus der Beobachtung von Ebbe und Flut auch auf die Existenz des Mondes schließen. Er vergaß aber dabei, genauestens zu prüfen, ob seine sinnlichen Beobachtungen nicht noch anders zu erklären wären, etwa durch Flüssigkeitsverlust…

Mit dem Verweis auf die Erkenntnistheorie ist eines schon angedeutet: Kant bestreitet im Gegensatz zur philosophischen Tradition vor ihm, dass es möglich sein könnte, die Existenz einer unsterblichen Seele oder natürlich auch Gottes zu beweisen. Derartige Versuche verweist er in den Bereich der Spekulation. Freilich, Kant ist auch kein Atheist. Im Gegenteil, so klar und deutlich, wie er bestreitet, dass man die Existenz Gottes beweisen könne, so klar und deutlich stellt er fest, dass es ein Postulat (eine Forderung, ein Axiom) der Vernunft sei, anzunehmen, dass eine unsterbliche Seele und auch Gott existiere.

Ausgangspunkt von Kants Gedankengang, der zu diesen Postulaten führt, ist die Annahme, dass der Besitz der Vernunft den Menschen wesentlich zum Menschen macht, dass diese Gabe nicht zufällig Teil unseres Wesens ist, sondern ihren Sinn hat, so wie auch die mächtigen Pranken des Löwen ihren Sinn haben. Mit Hilfe seiner Vernunft – vorausgesetzt er setzt sie ein – kann der Mensch erkennen, dass die Umsetzung des kategorischen Imperativs – das moralische Gesetz – das höchste anzustrebende Gut ist. Denn, würden alle so handeln, dass die Maxime ihres Handelns als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnten, dann würde diese Welt eine Welt sein, in der absoluter Frieden herrscht, in der es absolut gerecht zugeht… Das höchste Glück wäre erreicht, nicht nur für den Einzelnen, sondern für die ganze Menschheit.

Nur, die alltägliche Erfahrung lehrt, dass viele Menschen ihre (praktische) Vernunft nicht im eigentlichen, richtigen Sinne für das höchste Gut einsetzen. Und so würde, unter der Voraussetzung, dass wir alle nur dieses eine Leben haben und danach nichts mehr kommt, gelten:

Der, der aufgrund von egoistischem Handeln, der Ausnutzung der Schwächeren etc., sein Leben in Saus und Braus führt, hat, wenn er stirbt, ein glückliches Leben gehabt, während

der, der zum Beispiel nie lügt, weil er ganz nach dem kategorischen Imperativ davon ausgeht, dass niemand angelogen werden möchte und man deshalb selbst auch nicht lügen sollte, sein Leben lang immer wieder über den Tisch gezogen, ausgenutzt wird. Er hätte, wenn er stirbt, zwar vielleicht ein moralisch korrektes, aber kein glückliches Leben geführt.

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Angesichts dieser beiden Alternativen gibt es nur zwei logische Antworten:

  • Wenn es dem besser geht, der auf seinen Vorteil schaut, der sich nicht für Moral und Gerechtigkeit interessiert,
    wenn der in unserer Welt an Lebensqualität und Lebensglück verliert, der versucht, sich immer moralisch absolut richtig, vernünftig zu verhalten,
    dann ergibt sich unter der Voraussetzung, dass wir nur dieses eine Leben haben und dem Tode keines folgt, logisch zwingend der Schluss:
    Es ist völlig unsinnig sich moralisch verhalten zu wollen. Achte lieber darauf, dass Du hier und jetzt mit allen Mitteln ein gutes Leben führst und nutze die Vernunft dazu zu verhindern, dass Dich jemand ins Gefängnis steckt…

Diese Lösung ist aus der Sicht Kants durchaus logisch – wirft aber eine Frage auf: Warum sind wir alle fähig mit unserem Verstand zu erkennen, dass wir wenn wir uns an den kategorischen Imperativ halten würden, eine gerechte und gute Welt schaffen könnten?
Oder, um es anders auszudrücken: Lösung 1 ist logisch unter der Voraussetzung, dass wir alle Tiere wären, die aufgrund ihrer rein sinnlichen Natur ihr Glück auch ausschließlich in der Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse finden.

Wir aber sind Menschen und sind dies gerade dadurch, dass wir unseren Verstand besitzen, der uns Möglichkeiten aufzeigt, eine für alle gute und gerechte Welt zu schaffen.
Aus diesem Grund, weil wir eben vernunftbegabte Wesen und keine Tiere sind, weil wir uns mit Hilfe der Vernunft frei gegen unsere Triebe und das rein sinnliche Glück entscheiden können und alle diese besonderen Möglichkeiten des Menschseins einen echten Sinn haben müssen, ergibt sich eine weitere Lösung:

  • Es muss eine Instanz geben,
    die garantiert, dass wir, wenn wir unsere Lebensaufgabe als Menschen vollendet und das heißt nach dem moralischen Gesetz gelebt haben, Glück erleben können – im Leben nach dem Tod: Gott und in uns eine unsterbliche Seele, die dieses Glück erleben kann.
    Nachtrag 1: Damit ist natürlich auch gemeint, dass der, der im irdischen Leben nicht versucht nach dem moralischen Gesetz zu leben, sondern stattdessen irdischen sinnlichen Vergnügungen nachgeht, von eben diesem Gott nach dem Tode im ewigen Leben bestraft wird.
    Nachtrag 2: Kant lässt es offen, wie man sich dieses Glück vorstellen soll, das den vorbildlichen Menschen nach dem Tod erwartet, nur eines kann als sicher gelten: Es ist nicht irdisch-sinnlicher, triebhafter Natur (Essen, Liebe…)

Klassische Theorien angewandt I

Eine fiktive Situation:

Ein Boot voller Flüchtlinge aus einem Bürgerkriegsgebiet in Afrika wird vor der Küste Siziliens von der italienischen Marine aufgebracht. Die Italiener drängen auf Weisung ihrer Regierung das Boot ab und sorgen dafür, dass es zurück, Richtung Afrika fährt (Dort kommt das Boot allerdings nie an). In einer Pressemitteilung zu diesem Vorfall heißt es: Angesichts überfüllter Flüchtlingslager auf italienischem Boden und angesichts der Weigerung der restlichen europäischen Staaten, insbesondere der reichen Nationen, wie Deutschland, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, sieht sich Italien dazu gezwungen, die Grenzen zu schließen. Flüchtlinge, die versuchen über den Seeweg nach Italien zu kommen, werden wieder zurückgeschickt. Die Verantwortung für das Schicksal der Flüchtlinge, für die Vielzahl derer, die auf offener See ertrinken, liegt bei ganz Europa und nicht allein bei Italien. Insofern ist die Weigerung Deutschlands und anderer europäischer Staaten, unter Verweis auf die sog. Drittstaatenregelung, Flüchtlingen aufzunehmen, auch die Entscheidung, sie auf dem Meer sterben zu lassen.

Abandoned belongings and life jackets on the shore

Abandoned belongings and life jackets on the shore

 

Eine erste Antwort:

Am einfachsten scheint die Bewertung dieser Situation aus der Sicht des Utilitarismus zu sein: Das Glück vieler Millionen Europäer steht dem Glück der wenigen Bootsflüchtlinge entgegen und damit ist nach der greatest happiness Faustformel klar: Die Flüchtlinge haben Pech gehabt, es ist legitim, sie zurückzuschicken, sie müssen auf ihren Traum, Anteil am Wohlstand Europas zu haben, verzichten, weil durch ihre Anwesenheit das Glück Europas, der hart erarbeitete Wohlstand, in Gefahr ist.

Diese Art der Argumentation, die sich immer wieder und nicht selten findet, ist allerdings einerseits überhaupt nicht im Sinne des Utilitarismus und andererseits rassistisch. Schon letzteres aber ist mit dem Utilitarismus nicht vereinbar, der immer das Wohl aller Beteiligten im Blick hat. Und überhaupt: Worin besteht denn hier das Glück? Um wieviel wird denn das Glück von uns Europäern tatsächlich geringer, dadurch dass wir Flüchtlinge aufnehmen? Der Unterschied, er mag von Person zu Person und Situation zu Sitiuation differieren, wird in der Summe äußerst gering, bzw. kaum spürbar sein. Dagegen aber steht auf der Seite der Flüchtlinge kaum messbares, aber unendliches Leid – der qualvolle Tod durch Ertrinken, die Trauer der Angehörigen und – selbst wenn sie überleben, der Hunger, die Kriege, die sie erwarten und aus denen sie kommen. Damit ist es nach dem Nutzen- und dem hedonistischen Prinzip aus der Sicht des Utilitarismus eigentlich unmöglich, die Flüchtlingen zurückzuschicken, sie dem sicheren Tod oder dem Leid in Afrika zu überlassen. Zumal auch zwei weitere Prinzipien des Utilitarismus verletzt sind: Diese Handlung ist a) nicht rein, im Sinne von: wir könnten den Angehörigen der Flüchtlinge mit Sicherheit nicht mit gutem Gewissen in die Augen schauen und sie ist b) auch nicht sicher, denn das beabsichtigte Ziel, durch derartige Maßnahmen abzuschrecken und zu verhindern, dass weitere Flüchtlinge sich auf den Weg nach Europa machen, wird m. E. ebenfalls nicht erreicht.

Damit ist eines klar: Die Flüchtlinge sollten aus der Sicht einer utilitaristischen Argumentation natürlich aufgenommen werden und wenn hier jemand im Sinne der greates happiness Formel Nachteile in Kauf nehmen muss, dann sind das jene, die sich durch ein Flüchtlingswohnheim in der Nachbarschaft gestört fühlen…

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Die zweite Anwort:

Versetzt man sich in die Situation der Flüchtlinge, die hilflos auf dem Meer treiben, die aus einer Heimat kommen, in der es nachweislich (empirisch überprüfbar) zahllose lebensbedrohliche Gefahren gibt (Hunger, Bürgerkriege…), so ist klar: Keiner von uns würde es in solch einer Situation wollen, so zu behandelt werden, wie es die italienische Marine mit den Flüchtlingen tat. Der Vorfall wäre aus der Perspektive einer rationalistischen Ethik unter Verweis auf den kategorischen Imperativ somit scharf zu verurteilen.

Dies gilt umso mehr, als die Motive der handelnden Personen unlauter sind, denn erstens hat nach den Grundsätzen der Pflichtethik jeder Mensch einen Zweck an sich, darf also nicht zum Mittel zum Zweck werden, wie das hier geschieht, wenn die italienischen Institutionen die Situation nutzen, um Politik zu machen. Darüberhinaus dürfen zweitens auch Gefühle und Ängste in unserer Argumentation und bei unserer Entscheidung keine Rolle spielen. Und so gilt: Solange es keinen vernünftigen Grund gibt zu behaupten, die Flüchtlinge würden unser Glück gefährden, solange es vor allem keinen vernünftigen Grund gibt zu sagen, dass der Verlust an Glück bei uns so groß ist, dass es vernünftig ist, friedfertige, schutzbedürftige und vernünftige Menschen in eine Heimat zu schicken, in der es nachweislich Krieg, Hunger… gibt, solange ist es ein Gebot der Pflicht für uns Flüchtlinge aufzunehmen.

 

Tugendethik oder Es geht nicht zuerst um Dein Glück!

Was wünschen wir uns mehr, als dass ein Arzt, der uns behandelt, das Gute als Ziel hat, sprich unsere Heilung? Was wünschen wir uns mehr, als dass unser Nachbar, der uns bei einem Problem hilft, das Gute als Ziel hat, sprich uns zu helfen?

Wir wissen allerdings auch, dass das in den allermeisten Fällen so nicht stimmt: Der Arzt denkt nicht nur an unsere Heilung, sondern auch an sein Geschäft und gegebenenfalls, wenn wir eine besondere Krankheit haben sollten, gar an seinen Ruhm. Und der Nachbar? Er hilft wiederum oft nur solange, wie es Spaß macht, bzw. um gut dazustehen… Wir erleben im Laufe unseres Lebens, alltäglich viele Enttäuschungen dieser Art. Die, von denen wir uns erhoffen, dass sie das Gute zum Ziel haben, verfolgen auch andere Ziele und oft sind es solche, die uns nicht nützen und manchmal sogar schaden. Wer hier etwas pessimistisch oder sollen wir sagen realistisch gestimmt ist, der kann gar zum Schluss kommen, dass es ein Fehler sei, zu erwarten, dass der andere einem Gutes wolle. Im Gegenteil, es sei typisch für unsere Mitmenschen, unsere Gesellschaft und uns selbst, dass es eigentlich nur noch um Eines geht: Den eigenen Spass, den eigenen Vorteil oder kurz: Das eigene Glück für das dann der Andere Mittel zum Zweck ist.

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Sind uns in diesem Sinne die Tugenden abhanden gekommen, die man ja, je nach Theorie auch als Charaktereigenschaften bezeichnen kann und deren Ziel es ist, das Gute für den Anderen zu wollen? Man könnte dies annehmen und denke hier z.B. an die gute alte deutsche Tugend der Pünktlichkeit. Wir kennen sie und wir bemühen sie auch gerne, etwa dann, wenn wir vorhatten mit der Bahn von A nach B zu kommen und die Bahn wieder einmal unpünktlich ist. Dann erheben wir gerne den Zeigefinger und klagen die Einhaltung der Tugend der Pünktlichkeit ein. Doch wehe, wenn uns einer diese Tugend anklagend vor Augen hält, etwa weil wir zu einem Termin zu spät kommen. Dann ist das Urteil “Mein Gott, typisch deutsch, wie spießig” schnell bei der Hand. Diese letztere Reaktion ist wohl ein Reflex der Ideologie der 68ger, die wenn dann Spontaneität zur Tugend erhebt und mit festen, althergebrachten Werten – wie eben den Tugenden – und mit Verbindlichkeiten wenig bis nichts anfangen konnte, ja sie als reaktionär verdammte.

Aber, brauchen wir Tugenden in unserer hochzivilisierten und aufgeklärten Welt überhaupt noch? Diese Frage wird interessanterweise in der Gegenwart immer wieder bejaht, meist mit dem Verweis auf jene raffgierigen Banker, die die Welt in eine inzwischen langandauernde Krise stürzten. Aber, seien wir ehrlich: Jene, die in diesem Zusammenhang fordern, die Banker auf einen Tugend- und Wertekatalog zu verpflichten, wollen eine Rückkehr zur Tugendethik nicht wirklich. Sie nutzen den Verweis auf die Tugenden genauso, wie jene, die von der Deutschen Bahn immer wieder die Tugend der Pünktlichkeit einfordern: Als Mittel, von anderen einzuklagen, was dem eigenen Glück dient. Nur, wer eine Tugendethik will, der weiß auch, dass bestimmte Grundtugenden, wie etwa Ehrlichkeit, von jedem eingefordert werden können und müssen. Sprich: Wer fordert, dass Banker ehrlich gegenüber ihren Kunden sein sollen, wenn sie ihnen Wertpapiere verkaufen, der sollte selbst, im Kleinen, etwa bei seiner Steuer, auch absolut ehrlich sein.

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(Bruegel, Die sieben Tugenden)

Gehen wir einen Schritt weiter: Worum geht es hier eigentlich? Um unser Glück, um nicht mehr und nicht weniger. Wir haben es uns inzwischen angewöhnt, es je für uns selbst zu suchen. Mit der Folge, dass jeder dem Glück nachjagt, wobei gefühlt aber nur die wenigsten glücklich werden. Das hat verschiedene Gründe, nur einer sei hier genannt: In einer Welt, in der Spontaneität oder Flexibilität ein Ideal ist, ist es schon aus logischen Gründen nicht möglich durch die Festlegung auf eine Rolle (z.B. die der Mutter) oder einen Job dauerhaft glücklich zu sein. Den Gegenpol dazu bildet die Tugendethik. Sie steht für Verbindlichkeit und Stabilität. Sie geht davon aus, dass das Glück möglich ist, wenn ich das Gute tue, um des Wohls des Anderen willen.
Siehe auch http://www.julian.nida-ruemelin.de/deutsche-handwerkszeitung-vom-14-3-2014/

 

 

Alltagsethik und ihre Grenzen

Alltagsethik beruht auf Gewohnheit und Traditionen, sei es persönlichen oder kulturellen. Sie ist die Form der Ethik, mit der wir die normalen Herausforderungen des Tages meistern. Sie lässt uns handeln, ohne groß nachzudenken und oft genug sind bestimmte ethische Entscheidungen für uns so selbstverständlich, dass uns gar nicht mehr bewusst ist, dass wir überhaupt eine ethische Entscheidungen treffen, etwa dann, wenn wir Fleisch essen oder mit dem Auto irgendwo hinfahren… Damit entlastet uns die Alltagsethik von der Notwendigkeit, uns selbst große Gedanken zu machen (schön wäre es allerdings, wir hätten sie uns einmal gemacht) und das ist gut so, denn tatsächlich wäre es ja auch sehr lähmend, würden wie vor jeder kleinen alltäglichen ethischen Situation eine ausführliche ethische Diskussion führen…

Teil unserer Alltagsethik sind auch einzelne Argumente und kleinere Argumentationsmuster, die wir gerne nutzen, um ethische Probleme, mit denen wir konfrontiert werden, im “Vorübergehen” zu lösen. Besonders beliebt ist hier zum einen eine oft deutlich reduzierte Pflichtethik in Aussagen wie: “Es ist die Pflicht der Behörden…” und ein ebensooft ebenso reduzierten Utilitarismus andererseits in Aussagen wie: “Wenn durch den Bau einer neuen Startbahn bei einem Flughafen so viele Arbeitsplätze entstehen und mehr Menschen besser in den Urlaub kommen, dann müssen das auch die akzeptieren, die in der Einflugschneiße leben und die sich über den Lärm beschweren…”

 

View of the Oktoberfest in Munich at night.

View of the Oktoberfest in Munich at night.

Beide Formen, Pflichtethik oder besser der Verweis auf Pflichten und Utilitarismus oder besser der Gedanke, dass die Mehrheit entscheidet, verwenden wir gerne wechselweise und gerne auch in Kombination. Ein schönes Beispiel hierfür ist die “Diskussion” um die Sicherheit bei öffentlichen Veranstaltungen, wie z.B. dem gerade zu Ende gegangenen Oktoberfest… Für die meisten steht es dann außer Frage, dass die Behörden alles Erdenkliche tun sollten, um Anschläge zu verhindern. Das sei schließlich die Pflicht der Behörden. In diesem Zusammenhang hätte eine Mehrheit der Bevölkerung offenkundig auch kein Problem damit, wenn die Behörden zur Erfüllung dieser Aufgabe den Internetverkehr überwachen und Handys abhören. Das Glück einer (scheinbar) sicheren Wiesn wiegt hier eindeutig höher als der Schutz der Privatsphäre, der glaubt man zumindest den Umfragen nur einer Minderheit wichtig ist…

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An dieser Stelle könnte man mehrere Diskussionen beginnen, etwa darüber, ob hier die Pflichtethik richtig angewandt wird oder über Sinn und Nutzen einer Handy- und Internetüberwachung. Viel interessanter ist an dieser Stelle aber der psychologische Aspekt an dem hier beschriebenen Argumentationsmuster: Könnte es nicht sein, dass wir in unserer Alltagsethik bestimmte Aspekte der Pflichtethik deshalb so gerne nutzen, weil sich sich gut eignen, um andere in die Pflicht zu nehmen? Könnte es nicht sein, dass wir Elemente des Utilitarismus deshalb so gerne aufgreifen, weil wir uns damit gut in der Masse verstecken können – ganz getreu dem Motto: Wenn so viel dafür sind, kann es nicht falsch sein? Könnte es also sein, dass es eigentlich um Verdrängung geht, dass wir uns selbst auf diese Weise unserer Verantwortung zu entledigen suchen, die wir als mündige Bürger doch eigentlich tragen? In der Ethik und in der Rechtswissenschaft gibt es einen eigenen Fachbegriff, für unsere Verantwortung in diesem Zusammenhang: Das allgemeine Lebensrisiko. Sprich: Wir sollten uns eigentlich bewusst sein, dass das Risiko eines Unfalls, Opfer eines Verbrechens zu werden… in unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedlich hoch ist. So kann eine Schülerin davon ausgehen, dass sie in einer Schule besonders gut geschützt ist, sie sollte aber auch wissen, dass die Zahl der Vergewaltigungen in München im Zusammenhang mit dem Oktoberfest deutlich steigt, dass sie also, wenn sie auf die Wiesn geht ein höheres Lebensrisiko eingeht. Oder: Ihr sollte eigentlich bewusst sein, dass sie mehr Verantwortung für sich selbst trägt…

Spätestens an dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, dass die Alltagsethik ihre Grenzen hat und ihre eigenen Gefahren mit sich bringt. Wir kreieren auf diese Weise Illusionen – die Behörden sorgen für Sicherheit – und wir entmündigen uns selbst…

Grundzüge einer biblischen Ethik

Leider gibt es die biblische Ethik nicht. Es gibt zwar immer wieder Stellen, allen voran die 10 Gebote und die Bergpredigt, an denen mehrere ethische Normen gesammelt sind, insgesamt aber fehlt in der Bibel eine Systematik, so dass ethische Themen nie geschlossen, zusammenhängend aufgearbeitet werden. Der Leser der Bibel ist dazu gezwungen, aus Erzählungen (etwa dem Schöpfungsbericht) ethische Richtlinien abzuleiten, andere wiederum muss er sich aus prophetischen Texten und Briefen der Apostel zusammensuchen. Gut ist es, wenn hierbei auf Vollständigkeit geachtet wird. Viel häufiger aber, werden einzelne Stellen gesucht und gefunden, aus dem Kontext isoliert und dann in die gewünschte Richtung interpretiert. Auf diese Weise findet jeder in der Bibel das, was er sich erhofft. Der Kriegsbefürworter die Botschaft “schmiedet Pflugscharen zu Schwertern um” und der Friedensaktivist “schmiedet Schwerter in Pfugscharen um”.

Dabei widerspricht sich die Bibel – auch wenn diese beiden Textstellen anderes nahe legen – nicht. Sie hat eine klare Position nur – und auch diese Botschaft muss hier unbedingt eingeschoben werden – diese Position wird seit Jahrhunderten gezielt verdrängt, hinweginterpretiert, ja sogar verfolgt (siehe dazu etwa das Schicksal der Katharer oder die Anfänge der Befreiungstheologie). Das geschieht mit gutem Grund, denn wer die Bibel liest, dem wird schnell bewusst, dass sie nahezu allen zentralen Prinzipien unserer Gesellschaft widerspricht:

Der Verehrung des Schönen, wie sie in Modezeitschriften… zelebriert wird

Dem Muster besser, schneller, höher, weiter…,

Der Bewertung und Beurteilung des Menschen nach seiner Leistung…

Dem Prinzip des Wohlstands, der Idee also, dass der der etwas leistet, es sich auch verdient hat, Luxus zu genießen

Dem Prinzip des Ellbogens – setz Dich durch…

Das Recht der Geburt, das z.B. Akademiker ganz selbstverständlich annehmen lässt, dass ihr Kind etwas besseres verdient hat als…

Dem Prinzip des Geldes und der Macht – ganz getreu dem Motto: “Wer das Geld hat, hat das Sagen”

a poor and a rich compete in giving alms

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Dem setzt die Bibel in ihren Erzählungen, in der prophetischen Kritik der adeligen und zugleich kapitalistischen Gesellschaft, in Jesu Botschaft vom Reich Gottes … eine Vision von einer Welt entgegen,

in der Gerechtigkeit herrscht,

in der alle gleich sind,

in der es keine Armen mehr gibt, weil die Reichen so weit geteilt haben, dass Armut (und Reichtum) nicht mehr existiert,

in der es keine Mächtigen und keine Untertanen mehr gibt und

in der am Ende Schalom herrscht – ein umfassender Friede, ein Friede, den der Einzelne mit sich selbst, mit seinen Mitmenschen, mit der Natur und mit Gott hat.

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Damit wäre (fast) alles zur biblischen Ethik gesagt, eines aber darf nicht fehlen:

Diese Welt zu schaffen, das ist die Aufgabe des Volkes Gottes, der Jünger Jesu – das ist es, was Jesus meint, wenn er davon spricht, dass seine Jünger das Reich Gottes bauen sollen. Ganz entgegen der Tradition, die das immer wieder sehr gerne anders verstanden hat, sei hier nochmals betont: Gott will keine Gottesdienste von seinem Volk, er will nicht, dass sie täglich Bibel lesen und beten – er will, dass sie täglich, ständig aktiv für das Reich Gottes kämpfen, also engagiert gegen Hunger, Unrecht.,. eintreten. Der, der das tut ist der wahre Christ…

Ethik des Islams

Der Glaube an Gott ist die Basis jeder Religion, doch erst wenn der Glaube an Gott lebensbestimmende Praxis wird, ist der Glaube echt. Dies gilt für Muslime und Christen gleichermaßen. Gleichwohl tritt an dieser Stelle, an der von der Beziehung des Menschen zu Gott die Rede ist, auch schon ein entscheidender Unterschied zutage: Während Christen, dem Apostel Paulus folgend, ethisch handeln, weil sie die befreiende Nähe Gottes erfahren haben und diese dankbar weitergeben wollen, handeln Muslime aus Gehorsam gegenüber Gott, der dem Menschen bestimmt hat, wer er ist, was seine Pflichten sind…

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Eng verwandt sind Islam und Christentum in der ethischen Praxis. Um dies zu erkennen, ist es allerdings nötig, einige wenige Spitzen zu ignorieren, die die Wahrnehmung des Islams bei vielen westlich geprägten Menschen bestimmen: die Rolle der Frau, das Gebot, Dieben die Hand abzuhacken und Ehebrecher zu steinigen. Auf diese Aspekte wird im Folgenden nicht mehr eingegangen, stattdessen seien alle modernen aufgeklärten Christen an die Geschichte des Christentums erinnert…

Tatsächlich – und das steht natürlich teilweise deutlich im Gegensatz zum jeweiligen Erscheinungsbild –  sind Islam und Christentum zwei Religionen, in deren Zentrum – auch aufgrund einer gemeinsamen Tradition und gemeinsamer heiliger Schriften – die Idee von der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes steht, die zugleich ein Auftrag an die Menschen ist:

Ein Alter, der ebenso reich wie geizig war, hatte einen kranken Sohn. Als sich der Zustand des Jünglings nicht bessern wollte, rieten wohlmeinende Freunde dem Vater: “Es muss etwas geschehen! Vielleicht hilft es, wenn Du um seinetwillen den ganzen Koran einmal durchliest, oder aber, wenn Du ein Opfertier schlachtest und das Fleisch unter die Armen verteilst… Wer weiß, ob Allah dann ein Einsehen hat und Deinem Jungen Gesundheit schenkt?”
Der Geizhals dachte über diesen Vorschlag nach und erwiderte schließlich: “Dann ist es wohl besser, wir lesen den Koran, denn der liegt im Haus, meine Herde ist gerade viel zu weit weg… und das Nahe ist dem Fernen doch vorzuziehen!” “Nun ja”, sprach da ein beherzter Mann, “es war zu erwarten, dass er so wählt, denn der Koran sitzt ihm auf der Zunge, das Geld inmitten der Seele”.

Diese Geschichte aus dem Werk eines persischen Dichters hat ihre deutlichen Entsprechungen in der Bibel und beschreibt eine Gewissheit beider Religionen: Gott will keine Menschen, die heilige Schriften auswendig können, er will, dass Armen geholfen wird, dass Traurige getröstet werden… Gott will eine Welt, in der sozialer Friede herrscht, eine Welt, in der alle gleich behandelt werden und gleich sind. Diese Gedanken finden im Islam unter anderem ihren typischen Ausdruck in Zakat, einer der fünf Säulen des Islams, der Pflicht, Almosen zu geben und in der alle sozialen Unterschiede nivellierenden Kleidung der Pilger bei der Hadsch. Es ist ein Dorn im Fleisch des Christentums, dass die soziale Grundausrichtung im Islam zur Zeit offenkundig stärker und überzeugender zutage tritt, weshalb der Islam gerade in den armen Gegenden dieser Welt auf dem Vormarsch ist.

Ein weiterer Grund für die zunehmende Attraktivität des Islams liegt in der unterschiedlichen Stellung des Menschen in Islam und Christentum: Während nach christlicher Überzeugung der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, ist er im Islam nur Geschöpf Gottes. Dieser theologische und anthropologische Unterschied ist in der ethischen Praxis, etwa in der Bewertung der Abtreibung oder im Umgang mit Behinderten… bedeutungslos auch hier sind sich beide Religionen einig. Erst, wenn man nach dem aus diesen unterschiedlichen Ansätzen heraus entstehenden Selbstbewusstsein fragt, wird der Unterschied deutlich: Aus der Botschaft, dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes sei, entstand im Christentum auch dank entsprechender philosophischer Einflüsse, die Überzeugung, dass jeder einzelne Mensch etwas ganz Besonderes sei – sprich es kam zu einer starken Fokussierung auf den Einzelnen, seine Rechte und seine Entfaltungsmöglichkeiten. Dem stellt der Islam eine, in unserer Zeit der Einzelkämpfer und Egoisten, attraktive Idee entgegen: Wir (Muslime) sind alle Teil einer großen Gemeinschaft – umma – und bevor ich dafür sorge, dass es mir gut geht, achte ich darauf, dass es der Gemeinschaft gut geht.

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Präferenzutilitarismus (Singer)

Für manche ist Peter Singer ein Held, denn er ist einer der Väter der modernen Tierrechts- und Tierschutzbewegung, ein unermüdlicher Kämpfer für den Schutz bedrohter Arten; für andere wiederum ist er der gefährlichste Mann der Welt, einer der die Argumente für moderne Euthanasieprogramme liefert, etwa für die Tötung geistig behinderter Kinder…

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Singer provoziert, er fordert uns zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema auf, das die Basis eines jeglichen ethischen Systems sein sollte: Das Menschenbild. Er tut dies, weil er zahllose Widersprüche in der vorfindlichen Alltagsethik konstatiert, weil er Haltungen entdeckt, die Traditionen folgen, die heute nicht mehr so haltbar sind und vor allem zahllose letztlich subjektive Positionen. Mit welchem Grund etwa ist in Deutschland die Abtreibung bis zum dritten Monat erlaubt? Was spricht für das Ende des dritten Monats? Warum ist dann aber bei entsprechender Indikation eine spätere Abtreibung doch möglich? Wieso ist es legitim ein geistig behindertes Kind im Bauch der Mutter zu töten, wieso wäre es aber andererseits eine Straftat, würde man ein neugeborenes geistig behindertes Baby töten? Weil letzteres ein paar Monate älter ist? Weil das eine noch unsichtbar im Bauch der Mutter ist, das andere aber uns mit einem menschlichen Gesicht anblickt? Vor dem Hintergrund dieser widersprüchlichen Haltungen, die sich noch leicht ausdehnen ließen auf unserer Wertschätzung unterschiedlicher Tierarten, ist Singers Ansatz zu verstehen als die Suche nach einem in sich konsistenten Menschenbild als Basis einer ethischen Theorie. Zwei Optionen scheinen ihm hier dann theoretisch möglich:

Embryo als Modell in Reagenzglas als Symbolbild für Embryonenforschung

Eine Möglichkeit wäre, die Lehren der jüdisch-christlichen Tradition ernst zu nehmen und zu sagen: Alles Leben ist heilig, von Gott. Der Mensch wäre dann ein heiliges Geschöpf unter vielen anderen heiligen Geschöpfen. Ihm wäre es konsequenterweise nicht nur verboten, andere Lebewesen zu töten, auch jeder Eingriff in die heilige Schöpfung, also z.B. die Verhinderung der Nidation menschlicher Eizellen oder die genetische Manipulation von Pflanzen wäre eine Sakrileg. Dieser Ansatz wäre für Singer durchaus denkbar, denn er wäre von überzeugender Konsequenz, aber Singer versteht den Menschen nicht von Gott her. Er will seiner Theorie Maßstäbe zugrunde legen, die empirisch nachweisbar, vernünftig begründbar sind. Die Evolution bietet ihm deshalb die bessere Basis, um dieses Thema zu lösen.

Im Kontext der Evolution wiederum wird deutlich, dass es eine Reihe von Lebewesen gibt, die die Natur mit
Neugier,
Vernunft,
der Fähigkeit abstrakte und komplexe Vorstellungen über eine Zukunft zu entwickeln,
ausgestattet hat. Diese Lebewesen haben ein Bewusstsein über sich selbst, sowie über Raum und Zeit. Sie nennt Singer Personen. Sie sind das Zentrum seiner Ethik, denn sie allein sind zu ethischen Entscheidungen fähig. Sie allein sind im Rahmen einer ethischen Abwägung dann auch zu schützen. Die Personen sollten ethische Entscheidungen nach den Prinzipien des klassischen Utilitarismus fällen. Wobei sie – dieses Vertrauen hat Singer – nicht einfach Glück als ihren Maßstab ansetzen, sondern Präferenzen – sprich höhere, abstraktere Vorstellungen von einer guten Zukunft.

Wer nun sind Personen? Aufgrund empirischer Beobachtung sind dies:

Affen, Delphine oder Krähenvögel und menschliche Jugendliche sowie Erwachsene.

Nicht aber: menschliche Embryonen, demente Menschen, geistige Behinderte…

Lesetipp: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/im-gespraech-peter-singer-sind-sie-der-gefaehrlichste-mann-der-welt-11108221.html

Verantwortungsethik (Hans Jonas et al)

Vorbermerkung – die folgenden Gedankenspiele hätte man auch mit manch anderem Plakat von Hilfsorganisationen machen können. Der WWF hat aber aus der subjektiven Sicht des Autors die besten Plakate, um die gewünschten Inhalte darzustellen…

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I.

Plakate wie diese sind nach Hans Jonas nicht wirklich zielführend! Um Missverständnisse zu vermeiden:  Damit ist nicht gesagt, dass es sinnlos sei, mit einer Spende zur Rettung der wenigen noch lebenden sibirischen Tiger beizutragen. Damit sei auch gesagt, dass davon auszugehen ist, dass der WWF dieses Geld sinnvoll einsetzen wird. Aber Spendenaufrufe wie diese machen nach H. Jonas nur Sinn, wenn man ganz kurzfristig Geld für eine akut vorliegende Notsituation Geld bräuchte. Doch das ist hier nicht unbedingt der Fall. Der sibirische Tiger ist vom Aussterben bedroht, ja, aber er wird nicht morgen aussterben und, um ihn zu retten, müssen langfristig eine Reihe von Projekten angestoßen und finanziert werden. Und genau an dieser Stelle wird das Plakat zum Problem, denn es spricht die mütterlichen bzw. väterlichen Gefühle in uns an – traurige Tigerkinder blicken uns an, ihre Mama ist weg! – und kombiniert diese Gefühle mit dem Versprechen schon 5 Euro würden helfen, zu verhindern, dass künftig Tigerkinder ihre Mama verlieren.

Zur Erinnerung: Vor einem Jahr, ebenfalls typischerweise zur Weihnachtszeit, gab es diese Plakate schon einmal. Der einzige Unterschied: Damals waren es nicht Tigerkinder, denen die Menschen ihre Eltern genommen hatten, sondern Elefantenkinder. Dank der Kampagne des Jahres 2012 scheint es nun aber wieder genug glückliche und heile Elefantenfamilien zu geben, so dass der WWF sich der nächsten bedrohten Tierart zuwenden kann. Das könnte man zumindest denken, aber dem ist natürlich nicht so. Es braucht weiterhin viel Geld, um jene Projekte zu finanzieren, die damals begonnen wurden, um die Elefanten langfristig zu retten. Hat der WWF also nur einen anderen Schwerpunkt gesetzt? Denkbar wäre es, schließlich gibt es viele bedrohte Tierarten, aber wenn dann wäre dies nur die halbe Wahrheit.

Gestern war sie noch da

Wahrscheinlich, dass der WWF kaum noch um Spenden für Elefanten werben kann, denn wie wollte er sein Plakat aus dem letzten Jahr übertreffen? Mit grausamen Schockbildern, die aufgrund ihrer Wirkung höchst umstritten sind? Man hat letztes Jahr jenes  Motiv eingesetzt, dass Menschen zum Mitleiden motiviert: den traurigen Blick eines einsamen Kindes. Mehr Mitgefühl kann man für eine Tierart kaum wecken.  Deshalb jetzt der Wechsel der Tierart (und es ist anzunehmen, dass nächstes Jahr eine weitere Tierart auf den Plakaten zu sehen ist). Aber ewig wird der WWF nicht auf dieses Motiv setzen können, denn es gilt auch dies: Wir Menschen gewöhnen uns an alles, auch an den Anblick von verwaisten Tierkindern, zumal dann, wenn sie uns nur von Plakaten aus anstarren…
Und es ist eine zweite Frage an die Entwickler dieser Plakatkampagne zu stellen: Findet hier nicht eine massive Reduktion des Problems und der Problemlösung statt? Es ist ja nicht so einfach, wie man es ausgehend von dem Plakat annehmen könnte: Irgendwo auf der Welt gibt es ein paar Menschen, die so bösartig sind, Tigerkindern ihre Mütter wegzunehmen und schon mit 5 Euro kann man die Tiger vor ihnen retten… Das Gefühl, dass dieses Plakat zwar nützlich sein mag, in der Vorweihnachts- und Weihnachtszeit kurzfristig Spenden für bedrohte Tiger zu akquirieren, dass es aber kaum zu einer langfristigen und nachhaltigen Lösung des Gesamtproblems beiträgt, dieses Gefühl bleibt. Es bleibt, weil die spendende Bevölkerung nur oberflächlich und emotional angesprochen wird. Zudem wird ihr suggeriert, einfach, unbürokratisch, schnell und effektiv helfen zu können. Dadurch aber entsteht kein echtes Verantwortungsbewusstsein für die Situation der Tiere und der Menschen, die sie nicht grundlos töten.

II.

Gegenposition: Die Plakatkampagne ist gerade ein Versuch, jene Distanz zur Natur und zum Mitmenschen zu überwinden, die nach H. Jonas beim modernen Menschen zu beobachten ist. Wir wissen so gut wie nichts über die sibirischen Tiger, ihre Bedeutung für das Ökosystem etc. und wir wissen ebenso wenig über die Gründe, die die Menschen haben, die die Tiger jagen. Aber, wir glauben alles, insbesondere die Natur, unter Kontrolle zu haben. Sie ist unsere Ressource, die zu nutzen unser Recht ist. Also kaufen wir uns Möbel aus Holz und gerne darf es da auch mal Tropenholz sein. Was, so fragen wir, hat nun mein Gartenstuhl aus Tropenholz mit Tigern zu tun? Nichts, denn wegen den zwei Bäumen, die für meinen Stuhl maximal gefällt werden mussten, gab es keine Notwendigkeit eine Tigerin zu töten. Oder? Genau hierin liegt der Fehler, hier zeigt sich die Distanzierung des modernen Menschen von seiner Umwelt, von der H. Jonas spricht:

So groß ist die Distanz zwischen uns und der Welt, in der der sibirische Tiger lebt, aus der das Holz für unsere Möbel kommt, dass wir gar nicht mehr wissen können, was dort wirklich passiert. Die Welt ist so komplex geworden, dass es uns schwer fällt überhaupt noch nachzuvollziehen, woher genau unsere Möbel kommen, von wem sie unter welchen Bedingungen hergestellt wurden. Die Welt ist so anonym geworden, dass es uns leicht fällt, uns hinter und in der Masse zu verstecken, so dass wir immer sagen können: Mein Beitrag ist so unbedeutend… Bis uns das Bild von den Tigerjungen daran erinnert: Da draußen, außerhalb unserer heilen Wohlstandswelt, da gibt es noch eine Umwelt, auf die wir angewiesen sind und die auf uns angewiesen ist.

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Ich als Einzelner trage Verantwortung für die Natur, meine Mitmenschen und zukünftige Generationen! Dieses Gefühl, dieses Bewusstsein und die daraus resultierende Pflicht, gerade Schwachen und Bedrohten zu helfen, ist das, was uns nach H. Jonas erst zu besonderen Wesen innerhalb der Natur macht. Und, wenn es durch das Plakat gelingt, bei einigen Menschen dieses Bewusstsein wieder aus der Versenkung zu holen, dann ist viel gewonnen. Noch mehr ist dann erreicht, wenn wir beginnen, die Projekte, die der WWF in der Heimat der Tiger durchführt, nicht aus der Ferne durch Geld zu unterstützen, sondern unsere Verantwortung ernst zu nehmen und selbst dort hinzugehen, bzw. zumindest beginnen intensiv und kritisch nachzufragen. Dann würden wir sehen, dass es nicht reicht durch die Errichtung von Reservaten etc. Tiger zu retten, wenn gleichzeitig in der Umgebung dieser Reservate Menschen verzweifelt in Armut leben…