Wann beginnt menschliches Leben? Teil IV – wenn unser Gehirn funktioniert

Seit Jahrzehnten streitet sich die deutsche Gesellschaft über den Beginn des menschlichen Lebens. Es ist ein Streit, der manchmal schwelt, manchmal heftig ausbricht – man denke nur an jene Zeiten, als die Zeitschrift “Stern” titelte “Wir haben abgetrieben!” (6.6.1971) und der Streit um Paragraph 218 Strafgesetzbuch seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Heftig gestritten, wenngleich mit deutlich weniger öffentlicher Leidenschaft, wurde in der Gegenwart unter anderem um die Forschung an Embryonen. In all diesen Fällen wurden mit der Zeit Lösungen gefunden, gesetzliche Regelungen geschaffen, die der Mehrheitsmeinung zu entsprechen scheinen, nur eines gab es nicht: einen gesellschaftlichen Konsens. Und so stehen in der Gegenwart immer wieder Befürworter der Pille, der Abtreibung, der Embryonenforschung entsprechenden Gegnern gegenüber und dabei gilt dann auch noch, dass es längst nicht gesagt ist, dass der, der etwa eine Abtreibung für vertretbar hält, die Forschung an Embryonen befürwortet.

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(Abtreibungsgegner in München, 10.5.2014
Quelle: ETIENjones / Shutterstock.com)

In dieser festgefahrenen Situation, in der es fast ausgeschlossen zu sein scheint, dass eine Definition zum Beginn des menschlichen Lebens breite Zustimmung findet und damit konsensfähig ist, tut es gut, einmal in eine andere Richtung zu schauen: Ans Ende des menschlichen Lebens. Und das erstaunliche ist: Hier hat die deutsche Gesellschaft zu einem Konsens gefunden, hier gibt es keine sich teilweise widersprechenden Regelungen, wie es sie in den den Anfang des Lebens betreffenden Gesetzen gibt (Abtreibung ist erlaubt – Forschung an Embryonen nicht). Hier ist klar: Ein Mensch ist tot, wenn der Hirntod eingetreten ist, wenn sichergestellt ist, dass nicht nur Teile des Gehirns, sondern Großhirn und Hirnstamm so irreversibel geschädigt sind, dass sie nicht mehr funktionieren.

Diese Beobachtung ist die Basis der Position, die Hans-Martin Sass, Vertreter der Differenzialethik, die sich um weltanschauliche Offenheit, Orientierung an der Person und Situation ebenso bemüht, wie um den gesellschaftlichen Konsens in der Entscheidungsfindung, einnimmt: Wenn es doch konsensfähig ist, dass das menschliche Leben in dem Moment endet, in dem das Hirn aufhört zu funktionieren, warum soll man dann nicht annehmen, dass menschliches Leben dann beginnt, wenn das Gehirn anfängt zu funktionieren?

Bliebe nur noch die Frage, wann genau man davon ausgehen kann, dass das Gehirn als solches Funktionstüchtigkeit erlangt hat. Und auch hier lohnt sich ein Rückblick auf die Diskussionen und Gedanken, die zu der in Deutschland gültigen Hirntodregelung geführt haben: Es darf kein Zweifel bestehen, dass das Gehirn sich nicht doch noch erholt oder dass Teile desselben eigenständig funktionieren. Der kleinste Hinweis darauf, dass der Patient zum Beispiel das Locked-in-Syndrom haben könnte, verhindert somit, dass der Betreffende für Tod erklärt wird.

Überträgt man dies auf die Frage nach dem Anfang des Lebens, folgt daraus, dass eine Definition eigentlich dann konsensfähig sein müsste, wenn sie festlegt, dass menschliches Leben in dem Moment beginnt, in dem das Gehirn anfängt funktionsfähig zu werden, konkret etwa am siebzigsten Tag nach der Empfängnis. Nachweisbar sind dann im Kortex Synapsen, die die isolierten Neuronen vernetzen, Neuronenansammlungen und erste Tendenzen zu einer Teilung des Hirns. Ab diesem Zeitpunkt könnte der Embryo z.B. schon licht- und schmerzempfindlich sein und damit würde für ihn das gelten, was auch für einen Menschen mit dem apallischen Syndrom gilt: Niemand würde ihm das Leben nehmen…

 

Diskursethik (und Kontraktualismus)

Wer hat entschieden, als Stuttgart 21 gebaut werden sollte? Wer entscheidet heute darüber, ob Banken, Staaten gerettet werden sollen? Es sind die von uns gewählten Volksvertreter, die ihrerseits beraten werden von Experten, Lobbyisten und Beamten aus den jeweiligen Ministerien. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden und trotzdem beschleicht große Teile der Bevölkerung immer wieder das Gefühl, “die da oben” würden einfach tun und lassen, was sie wollen oder noch schlimmer, “die da oben” würden das tun, was ihnen die international agierenden Konzerne und Banken vorgeben. Stuttgart 21 ist ein gutes Beispiel dafür, dass dieses Gefühl, von Regierung, Politikern und Konzernen einfach Ignoriert zu werden, nicht nur zu der inzwischen berühmten Politikverdrossenheit führt, sondern auch zum offenen Protest. Und auch dies ist besonders beachtlich: Es waren nicht Randgruppen der Gesellschaft, die in Stuttgart auf die Straße gingen, sondern Bürger, die Mitte der Gesellschaft.

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(quelle: S. Kuelcue / Shutterstock.com)

Mit der von Jürgen Habermas im Kontext der 68er Bewegung entwickelten Diskursethik entstand ein ethisches Modell, das der besseren Einbindung der Gesellschaft in die Entscheidungsfindung dienen könnte. Habermas selbst versteht sein Modell als Weiterentwicklung der Pflichtethik Kants. Dessen Ethik sei, so Habermas, in der Gegenwart nicht mehr umsetzbar, weil der Einzelne in einer immer komplexer und unüberschaubarer werdenden Welt schlichtweg nicht mehr in der Lage ist, in eigenständiger vernünftiger Analyse das Richtige zu erkennen. Deshalb ersetzt Habermas den kategorischen Imperativ durch eine neues Grundprinzip:

Handle nur nach einer Maxime, von der du, aufgrund realer Auseinandersetzung mit Betroffenen unterstellen kannst, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus der Handlung ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.

Reine Mehrheitsentscheidungen, durch Politiker in “Erfüllung des Wählerwillens” getroffene Entscheidungen wären demnach illegitim. Stattdessen müsste allen Entscheidungen ein echter Konsens der Beteiligten und Betroffenen zugrunde liegen. Gelänge kein Konsens, so wären nur faire Kompromisse erlaubt, in denen einige Beteiligte ihre Interessen in freier Entscheidung zum Wohl der Mehrheit zurückstellen.

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(Quelle: 360b / Shutterstock.com)

An dieser Stelle ist zu betonen, dass an der von Habermas aufgestellten Regel die Wörtchen real(er) und zwanglos von entscheidender Bedeutung sind. Sie weisen darauf hin, dass es essentiell ist, auf welchem Wege man zu einer Entscheidung kommt. So müssen alle von der Fragestellung Betroffenen beteiligt werden, ebenso sollte jeder seine Meinung frei äußern dürfen, vor allem aber ist ernst zu nehmen, dass jede Meinung gleich wichtig ist. Damit soll unter anderem die Macht der Experten gebrochen und der Einfluss der großen Interessensgruppen und Konzerne massiv eingeschränkt werden. Sie haben nun ebenfalls nur eine Stimme unter vielen und sind dazu verpflichtet, so zu reden, dass auch einfache Menschen ihre Theorien und Expertisen verstehen. Umgekehrt sind sie ihrerseits dazu aufgerufen, die Ängste der einfachen Menschen ernst zu nehmen.
Und die Rolle des Staates? Er ist Moderator, stellt sicher, dass die Bedingungen so sind, dass tatsächlich jeder die Chance hat, sich angemessen zu äußern und dass keine Art von Zwang ausgeübt wird. Die hier genannten Aspekte sind Teil der von Habermas propagierten Methode des herrschaftsfreien Diskurses, der in letzter Konsequenz durchgeführt, sogar mit ermüdender Genauigkeit formal festlegt, in welcher Reihenfolge, wie lange… jeder einzelne Teilnehmer am Diskurs reden darf.